Sagen des klassischen Altertums
Göttern ihnen zu frischer Fahrt verhalf. Sie waren im besten Segeln begriffen, als ein lautes Tosen ihnen von ferne schon ans Ohr schlug. Es war das Krachen der immer zusammenstoßenden und immer wieder zurückprallenden Symplegaden, der Widerhall der Ufer und das Zischen des zusammengepreßten Meeres. Tiphys, der Steuermann, stellte sich wachsam ans Steuerruder. Euphemos, der Held, erhub sich im Schiffe und hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn diese, hatte Phineus ihnen geweissagt, furchtlos zwischen den Felsen hindurchflöge, so dürften auch sie kecklich die Durchfahrt wagen. Eben öffneten sich die Felsen: Euphemos ließ die Taube fliegen; alle richteten ihre Häupter in Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch, aber schon näherten sich die Felsen wieder, das schäumende Meer wallte zischend einer Wolke gleich auf; ein Brausen erfüllte Wasser und Luft; jetzt stießen die Felsen zusammen und klemmten der Taube die letzten Schwanzfedern ab, doch war sie glücklich hindurchgekommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die Ruderer, dann aber öffneten sich die Felsen wieder, und die in den Zwischenraum strömende Flut zog das Schiff mit sich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem Haupte: eine turmhohe Woge wälzte sich ihnen entgegen, bei deren Anblick alle die Köpfe bückten. Aber Tiphys hieß mit den Rudern innehalten, und die schäumende Welle wälzte sich unschädlich unter dem Kiele hin und hob das Schiff hoch über die zusammenschwimmenden Felsen empor.
Die Helden arbeiteten, daß die Ruder sich krümmten; jetzt riß der Strudel das Schiff wieder mitten in die Felsen hinab. Schon stießen die Felsen zu beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm die Schutzgöttin Athene einen unsichtbaren Stoß, daß es glücklich durchkam und die zusammenschlagenden Felsen nur eben noch die äußersten Bretter des Hinterteiles zermalmten. Als erst die Helden den Äther und die offene See wieder vor sich sahen, da atmeten sie von der Todesangst wieder auf, und es war ihnen, als wären sie aus der Unterwelt emporgetaucht. »Das ist nicht durch unsre Kraft geschehen«, rief Tiphys, »wohl fühlte ich hinter mir die göttliche Hand Athenes, deren Schnellkraft das Schiff durch die Felsen stieß! Nichts haben wir fortan zu fürchten; alle andern Arbeiten nach dieser Gefahr hat uns Phineus als leicht geschildert.«
Aber Iason schüttelte traurig sein Haupt und sprach: »Guter Tiphys, ich habe die Götter versucht, daß ich dieses Unternehmen mir von Pelias auflegen ließ; lieber hätte ich mich von ihm in Stücke sollen hauen lassen! Jetzt bringe ich in Seufzen die Nächte nach den Tagen zu, nicht für mich besorgt, nein, nur auf euer Leben und Heil bedacht, und wie ich aus so gräßlichen Gefahren euch der Heimat unverloren zurückgeben soll.« So sprach der Held, seine Genossen zu versuchen. Diese aber jubelten ihm freudig zu und verlangten vorwärts.
WEITERE ABENTEUER
Unter mancherlei Schicksalen fuhren die Helden nun weiter. Auf der Fahrt erkrankte ihnen ihr treuer Steuermann Tiphys, starb und mußte am fremden Ufer begraben werden. An seine Stelle wählten sie denjenigen von den Helden, der des Steuers am kundigsten war. Er hieß Ankaios und weigerte sich lange, das schwierige Geschäft zu übernehmen, bis ihm Hera, die Göttin, Mut und Zuversicht ins Herz gab. Dann aber stellte er sich ans Ruder und lenkte das Schiff so gut, als wenn Tiphys selbst noch am Steuer säße. Unter seiner Führung gingen sie am zwölften Tage in See und kamen bald mit vollen Segeln an die Mündung des Flusses Kallichoros; hier sahen sie auf einem Hügel das Grabmal des Helden Sthenelos, der mit Herakles in den Amazonenkrieg gezogen und hier, von einem Pfeile getroffen, am Meeresufer verschieden war. Sie wollten eben weiterschiffen, als der klägliche Schatten dieses Helden, von Persephone aus der Unterwelt entlassen, sichtbar ward und sehnsüchtig nach den stammesverwandten Männern blickte. Er stand zuoberst auf seinem Grabhügel in der Gestalt, in welcher er in die Schlacht gegangen war: ein purpurner Busch mit vier schönen Federn wehte ihm vom Helme. Doch war er nur wenige Augenblicke zu schauen und tauchte bald wieder in die schwarze Tiefe hinunter. Erschrocken ließen die Helden die Ruder sinken. Nur Mopsos, 35
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
der Wahrsager, verstand das Verlangen der abgeschiedenen Seele: er riet seinen Genossen, den Geist des Erschlagenen mit einem Trankopfer zu
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