Sagen des klassischen Altertums
sühnen. Schnell zogen sie die Segel ein, banden das Schiff am Strande an, und indem sie sich um den Grabhügel stellten, benetzten sie ihn mit Trankopfern und verbrannten geschlachtete Schafe. Dann fuhren sie weiter und weiter und gelangten endlich zur Mündung des Flusses Thermodon. Diesem glich kein anderer Strom auf der Erde: aus einer einzigen Quelle tief in den Bergen entsprungen, teilte er sich bald in eine Menge kleinerer Arme und stürmte in so viel Ausflüssen ins Meer, daß nur viere zu einem Hundert fehlten. Sie wimmelten wie eine Menge Schlangen in die offene See.
An dem breitesten Ausflusse wohnten die Amazonen. Dieses Weibervolk stammte vom Gotte Ares ab und liebte die Werke des Krieges. Hätten die Argonauten hier gelandet, so wären sie ohne Zweifel in einen blutigen Krieg mit den Frauen geraten, denn diese waren den tapfersten Helden im Kampfe gewachsen. Sie wohnten nicht in einer Stadt vereinigt, sondern auf dem Lande zerstreut und in einzelne Stämme getrennt.
Ein günstiger Westwind hielt die Argonauten von diesem kriegerischen Weibervolke fern. Nach der Fahrt eines Tages und einer Nacht kamen sie, wie ihnen Phineus geweissagt hatte, an das Land der Chalyber.
Diese pflügten nicht das Erdreich, pflanzten keine fruchttragenden Bäume, weideten keine Herden auf der tauigen Wiese; sie gruben nur Erz und Eisen aus dem rauhen Boden und tauschten gegen dieses ihre Lebensmittel ein. Keine Sonne ging ihnen ohne schwere Arbeit auf, in schwarzer Nacht und dichtem Rauche verbrachten sie arbeitend ihren Tag.
Noch an mancherlei Völkern kamen sie vorüber. Als sie einer Insel, mit Namen Aretia oder Aresinsel, gegenüber waren, flog ihnen ein Bewohner dieses Eilands, ein Vogel, mit kräftigem Flügelschlage entgegen.
Als er über dem Schiffe schwebte, schüttelte er seine Schwingen und ließ eine spitze Feder fallen, die in der Schulter des Helden Oïleus steckenblieb. Verwundet ließ der Held das Ruder fahren; die Genossen staunten, als sie das geflügelte Geschoß erblickten, das ihm in der Schulter steckte. Der, der ihm zunächst saß, zog die Feder heraus und verband die Wunde. Bald erschien ein zweiter Vogel; den schoß Klytios, der den Bogen schon gespannt hielt, im Fluge, so daß der Getroffene mitten in das Schiff herabfiel. »Wohl ist die Insel in der Nähe«, sagte da Amphidamas, ein erfahrener Held, »aber trauet jenen Vögeln nicht. Gewiß sind ihrer so viele, daß, wenn wir landeten, wir nicht Pfeile genug hätten, sie zu erlegen. Lasset uns auf ein Mittel sinnen, die kriegslustigen Tiere zu vertreiben. Setzet alle eure Helme mit hohen nickenden Büschen auf; alsdann rudert abwechslungsweise zur Hälfte, zur andern schmücket das Schiff mit blinkenden Lanzen und Schilden aus. Dann erheben wir alle ein entsetzliches Geschrei; wenn das die Vögel hören, dazu die wallenden Helmbüsche, die starrenden Lanzen, die schimmernden Schilde sehen, so werden sie sich fürchten und davonflattern.« Der Vorschlag gefiel den Helden, und alles geschah, wie er ihnen geraten hatte. Kein Vogel ließ sich blicken, solange sie heranruderten; und als sie der Insel näher gekommen, mit den Schilden klirrten, flogen ihrer unzählige aufgeschreckt an der Küste auf und in stürmischer Flucht über das Schiff hin. Aber wie man die Fensterladen eines Hauses vor dem Hagel schließt, wenn man ihn kommen sieht, so hatten sich die Helden mit den Schilden gedeckt, daß die Stachelfedern herabfielen, ohne ihnen zu schaden; die Vögel selbst, die furchtbaren Stymphaliden, flogen weit übers Meer den jenseitigen Ufern zu. Die Argonauten landeten auf dieser Insel nach dem Rate des wahrsagenden Königes Phineus.
Sie sollten hier Freunde und Begleiter finden, die sie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten sie die ersten Schritte am Ufer getan, als ihnen vier Jünglinge im armseligsten Aufzuge, von allem entblößt, begegneten.
Einer von diesen eilte den nahenden Helden entgegen und redete sie an. »Wer ihr auch seid, gute Männer«, sprach er, »kommt armen Schiffbrüchigen zu Hilfe! Teilet uns Kleider mit, unsere Blöße zu bedecken, und Speisen, unsern Hunger zu stillen!« Iason versprach ihnen freundlich alle Hilfe und erkundigte sich nach ihrem Namen und Geschlecht. »Ihr habt wohl von Phrixos gehört, dem Sohne des Athamas«, erwiderte der Jüngling, »der das Goldne Vlies nach Kolchis gebracht hat? Der König Aietes hat ihm seine ältere Tochter zur Ehe gegeben, wir sind seine Söhne, und ich heiße Argos. Unser Vater
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