Sagen des klassischen Altertums
Phrixos ist vor kurzem gestorben, und nach seinem Letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe gesetzt, die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelassen, abzuholen.« Die Helden waren hocherfreut, und Iason begrüßte sie als Vettern; denn die Großväter Athamas und Kretheus waren Brüder gewesen. Die Jünglinge erzählten weiter, wie ihr Schiff im wütenden Sturme zerbrochen sei und ein Brett sie an diese unwirtliche Insel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr Vorhaben mitteilten und sie zur Teilnahme an dem Abenteuer aufforderten, da verbargen sie ihr Entsetzen nicht. »Unser Großvater Aietes ist ein grausamer Mann, er soll der Sohn des Sonnengottes und deswegen mit übermenschlicher Macht begabt sein; unzählige Kolcherstämme beherrscht er, und das Vlies hütet ein entsetzlicher Drache.« Manche der Helden wurden bei diesem Berichte bleich. Peleus jedoch, einer von ihnen, erhub sich und sprach: »Glaube nicht, daß wir dem Kolcherkönige unterliegen müssen; auch wir sind Göttersöhne! Gibt er uns das Vlies nicht in Güte, so werden wir es ihm seinen Kolchern zum Trotz entreißen!« So sprachen sie miteinander noch länger beim reichlichen Mahle.
Am andern Morgen schifften sich die Söhne des Phrixos, gekleidet und gestärkt, mit ihnen ein, und die Fahrt ging vorwärts. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht gerudert, sahen sie die Spitzen des Kaukasusgebirges 36
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
über die Meeresfläche hervorragen. Als es schon dunkelte, hörten sie ein Geräusch über ihren Häuptern: es war der Adler des Prometheus, der seinem Fraß entgegen hoch über das Schiff dahinflog; und doch war sein Flügelschlag so mächtig, daß alle Segel von ihm wie im Winde sich bewegten. Denn es war ein Riesenvogel, und er schlug die Luft mit seinen Flügeln wie mit großen Segeln. Bald darauf hörten sie aus der Ferne das tiefe Stöhnen des Prometheus, in dessen Leber der Vogel schon wühlte. Nach einiger Zeit verhallten die Seufzer, und sie sahen den Adler wieder hoch über sich durch die Lüfte zurückrudern.
Noch in derselben Nacht gelangten sie ans Ziel und in die Mündung des Flusses Phasis. Freudig kletterten sie an den Segelstangen empor und takelten das Schiff ab; dann trieben sie es mit den Rudern in das breite Bett des Stromes, dessen Wellen vor der gewaltigen Masse des Fahrzeugs sich scheu zurückzuziehen schienen. Zur Linken hatten sie den hohen Kaukasus und Kytaia, die Hauptstadt des Kolcherlandes; zur Rechten breitete sich das Feld und der heilige Hain des Ares aus, wo der Drache das Goldne Vlies, das an den blätterreichen Ästen einer hohen Eiche hing, mit seinen scharfen Augen bewachte.
Jetzt erhub sich Iason am Borde des Schiffes, er schwenkte hoch in der Hand einen goldenen Becher voll Weins und brachte dem Flusse, der Mutter Erde, den Göttern des Landes und den auf der Fahrt verstorbenen Heroen ein Trankopfer dar. Er bat sie alle, mit liebreicher Hilfe ihnen nahe zu sein und über den Tauen des Schiffes, das sie eben anbinden wollten, zu wachen. »So wären wir denn glücklich zum kolchischen Lande gelangt«, sprach der Steuermann Ankaios: »nun ist's Zeit, daß wir uns ernstlich beraten, ob wir den König Aietes in Güte angehen oder auf irgendeine andere Weise unser Vorhaben ins Werk setzen wollen.«
»Morgen«, riefen die müden Helden. Und so befahl denn Iason, das Schiff in einer schattigen Bucht des Flusses vor Anker gehen zu lassen. Alle legten sich zu süßem Schlummer nieder, der sie jedoch nur mit kurzer Rast erquickte, denn bald öffnete ihnen das Morgenrot die Augenlider.
IASON IM PALASTE DES AIETES
Der frühe Morgen vereinigte die Helden zur Ratsversammlung. Iason erhub sich und sprach: »Wenn euch meine Meinung gefällt, ihr Helden und Genossen, so sollt ihr übrigen alle ruhig, doch die Waffen in der Hand, im Schiffe bleiben; nur ich, die Söhne des Phrixos und zwei aus eurer Mitte wollen uns nach dem Palaste des Königes Aietes aufmachen. Hier will ich es versuchen und ihn zuerst mit höflichen Worten fragen, ob er das Goldne Vlies in Güte uns überlassen wolle. Nun zweifle ich nicht: er wird die Bittenden, auf seine Stärke trotzend, abweisen. Wir aber werden auf diese Weise aus seinem eigenen Munde die Gewißheit erhalten, was uns zu tun ist. Und wer kann es verbürgen, daß unsere Worte nicht doch vielleicht ihn günstig stimmen werden? Hat doch auch früher die Rede über ihn vermocht, daß er den unschuldigen Phrixos, der vor seiner
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