Sagen des klassischen Altertums
und meldete das Gesicht zuerst seinem Vater und dann den andern Häuptlingen des ausgezogenen Volkes. Alle vereinigten sich, mit ihm die verruchte Stätte des entweihten Gastrechts zu verlassen. Die begonnenen Arbeiten wurden eingestellt, und nachdem sie dem unglücklichen Polydorus ein Totenfest gefeiert, schoben die Trojaner ihre Schiffe wieder vom Strande, bestiegen sie und verließen mit ihnen den Hafen. Günstiger Wind führte sie bald weit in die offene See hinaus, und nach glücklicher Fahrt erschien ihnen mitten im Meer, unter vielen 339
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
andern Inseln, ein wunderliebliches kleines Eiland, das sich lachend aus den Fluten emporhob. Sein Name war Delos, es war einst eine schwimmende Insel gewesen; Apollo war hier geboren und hatte sich ihrer, als sie wie unentschlossen um andere Inseln und Küstenländer herumirrte, mitleidig angenommen und sie in der Mitte der Zykladeninseln in dem Meeresgrunde befestigt, daß sie hinfort den Stürmen trotzen und glückliche Bewohner nähren konnte. Die Menschen, die sich dort ansiedelten, hatten dankbar ihre Stadt dem Apollo geweiht und waren gastliche, gute Leute. Dorthin steuerte Äneas mit seiner Flotte, und ein sicherer Hafen nahm die müden Seefahrer auf. Sie landeten und betraten die Stadt, die dem Fernhintreffer Phöbus Apollo gewidmet war, mit tiefer Ehrfurcht. Ihr König Anius, der zugleich Priester des Phöbus war, wandelte, mit der heiligen Binde um die Schläfe und dem Lorbeer in der Hand, den Ankömmlingen entgegen und erkannte in dem greisen Anchises einen alten Gastfreund. Unter Gruß und Handschlag wurden Äneas und seine Genossen in die Mauern aufgenommen und wallfahrteten vor allem andern in den altertümlichen Tempel des Schutzgottes der Insel. Äneas warf sich in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollos nieder und betete mit aufgehobenen Händen: »Gib uns, du großer Beschützer des trojanischen Volkes, ein eigenes Haus, gönn uns eine bleibende Statt; laß das Geschlecht deiner Schützlinge nicht aussterben, hilf ihnen, ein zweites Troja zu gründen! Sprich, wer soll unser Führer sein? Wohin schickst du uns? Gib uns ein Zeichen, großer Gott, offenbare dich unsern Seelen!«
Kaum hatte der Held solches gesprochen, als die Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel umgab, und das ganze Gebirge ringsumher sichtlich und fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tempels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: »Ausdauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schoß eines Landes zurück, das schon den Stamm eurer Ahnherren getragen hat. Eure alte Mutter suchet ihr auf: von dort wird das Haus des Äneas in seinen spätesten Enkeln alle Länder der Erde beherrschen.«
Bei der Stimme des Gottes hatten sich alle demütig zur Erde niedergeworfen. Als sie den günstigen Ausspruch vernommen hatten, sprangen sie freudig wieder auf; ein jubelndes Getümmel entstand, und sie befragten sich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo spreche und wo den Irrenden eine neue Heimat winke.
Als sie so untereinander beratschlagten, erhob der ehrwürdige Held Anchises, der Vater des Äneas, der in die Kunde der Vorwelt eingeweiht war, seine Stimme: »Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes«, sprach er, »eure Hoffnungen deuten. Mitten im inselreichsten Meere liegt eine Insel, aus welcher Jupiter der Göttervater selbst abstammt. Sie heißt Kreta und ist auch die Wiege unseres Volksstammes. Und wie Trojas Hauptgebirg heißt auch die waldige Bergkette, die sich durch dieses Inselland zieht, das Idagebirg. Zu seinen Füßen dehnen sich die fruchtbarsten Fluren, und mit hundert Städten ist das Land geschmückt. Dorther soll unser Stammvater Teucer ins troische Land gekommen sein, dorther all unser Götterdienst stammen, und gewiß, dorthin führt uns auch jetzt Apollos Befehl: lasset uns ihm folgen! Die Reise dorthin ist nicht allzuweit; schickt uns Jupiter Fahrwind, so befindet sich unsere Flotte am dritten Morgen im Angesichte der Insel Kreta.«
DEN FLÜCHTLINGEN WIRD ITALIEN VERSPROCHEN
Über diese Deutung waren die Auswanderer hocherfreut. Ehe sie wieder zu Schiffe gingen, schlachteten sie dem Meeresgotte Neptunus und dem Apollo, der sie mit seinem Orakel getröstet hatte, jedem einen Stier und den mächtigsten Winden Lämmer, dem wilden Sturm ein schwarzes, dem sanften Zephyr ein weißes.
Dann verließen sie den Hafen von Delos, und ihre Schiffe durchflogen mit dem günstigsten Fahrwinde die Wellen;
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