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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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– Erster Teil
    ÄNEAS VERLÄßT DIE TROJANISCHE KÜSTE
    Seinen Vater Anchises auf den Schultern, seinen Sohn Askanius an der Hand, geschützt von seiner Mutter Venus, war der trojanische Held Äneas dem Brande seiner eroberten Vaterstadt entronnen und am Fuße des Idagebirges, wo dieses in das Meer ausläuft, in der kleinen Hafenstadt Antandrus angekommen.
    Hier sammelten sich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter unglückliche, des Vaterlands verlustige Menschen, und alle bereit, unter seiner Anführung eine neue Heimat aufzusuchen. Noch ungewiß, wohin sie das Geschick führen, wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen sie mit Hilfe der geretteten und zusammengeschossenen Habe sich eine Flotte zu zimmern an, die mit dem ersten Beginne des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der älteste Trojaner, der sich in ihrer Mitte befand, der greise Held Anchises selbst, gab das Zeichen zum Aufbruch und sagte zuerst dem unterjochten Geburtsland ein ewiges Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den Schiffen, als sie sich von der Heimatküste losrissen, und bald war diese aus den Blicken der Flüchtlinge verschwunden.
    Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren Tagen landete die Flotte an dem Gestade Thrakiens, das vorzeiten der wilde Verächter des Bacchus, der König Lykurgus, beherrscht hatte, dessen jetzige Bewohner aber, solange der Staat der Trojaner noch bestand, durch gleichen Götterdienst und Gastfreundschaft mit diesen aufs genaueste verbunden waren. Doch hatte dies Verhältnis eine grausame Störung erlitten; denn als das Glück von Troja zu wanken begann und Ajax der Telamonier vom Schiffslager der Griechen aus einen Streifzug zur See gegen die mit Priamus verbündeten Thrakier unternommen hatte, lieferte Polymnestor, der treulose König des Landes, den jungen Sohn des trojanischen Königs, Polydorus, den Griechen aus und erkaufte sich mit dieser Gabe den Frieden. Der Jüngling aber wurde von den Belagerern unter den Mauern Trojas und vor den Augen des Vaters gesteinigt.
    Doch Äneas wußte nicht, an welchem Ufer er mit seinen Schiffen vor Anker gegangen war. Voll Freude, eine wirtliche Küste erreicht zu haben, betrat er mit seinen Freunden das Land, und ohne von den Eingeborenen gehindert zu werden, schritten sie zu einer Niederlassung und legten den Grund zu einer neuen Stadt, in deren ruhigem Besitze sie sich von den Schlägen des Schicksals zu erholen gedachten und welcher Äneas, als das Haupt der Auswanderer, seinem eigenen Namen nach den Namen Änus beilegte.
    Der Bau war schon im Werden, und der fromme Held wollte für sein Werk den Schutz der Unsterblichen erflehen; er brachte Jupiter dem Göttervater und seiner eigenen Mutter Venus einen untadligen Stier am Gestade zum Opfer. In der Nähe befand sich ein heiterer Hügel, auf welchem Kornellen und Myrten in üppigem Wuchse wucherten. Nach diesem Wäldchen hatte sich Äneas begeben, um die frisch errichteten Rasenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken. Da erfuhr er ein Grausen erregendes Wunder. Sobald er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen aus diesen schwarze Blutstropfen und flossen auf den grünen Waldboden, daß dem Helden selbst in den Adern das Blut erstarrte. Angstvoll warf sich Äneas auf die Erde und flehte zu den Nymphen des Waldes und zu Bacchus, dem Schutzgotte der thrakischen Fluren, die Schrekken abzuwenden, mit welchen dieses Wunderzeichen ihm drohte. Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäumchen, und mit dem Knie auf den Boden gestemmt, versuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ sich ein klägliches Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen sprach: »Was quälest du mich, unglücklicher Äneas? Meine Seele wohnt in diesem Boden, in den Wurzeln und Ästen dieses Waldes, in welchem ich als Kind einst ahnungslos spielte.
    Ich bin dein Stammesgenosse, dein Verwandter, Äneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der einst von seinem Pflegevater an die Griechen verraten und vor deinen Augen unter Trojas Mauern zerschmettert ward. Mein Gebein ist von mitleidigen Thrakiern gesammelt und hier im Vaterlande bestattet worden.
    Verletze meine Freistätte nicht, du selbst aber fliehe dieses Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht; denn noch herrscht das Geschlecht des Verräters in diesem Lande.«
    Als Äneas sich vom ersten Schrecken erholt hatte, kehrte er zu den Seinigen zurück

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