Sagen des klassischen Altertums
wehklagend durch die Tore. Sie riefen die Götter laut um Hilfe an, eilten auf den Königspalast zu und versammelten sich um Latinus, ihren Herrn.
Auch Turnus fand sich schreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß die Herrschaft des Landes an die Trojaner verraten werde. So umringten sie alle, in Klagen und Lärm wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieser aber stand unbeweglich wie ein Fels im Meere. Dennoch vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht Widerstand zu leisten. »Wehe mir«, rief er endlich, »ich fühl es wohl, uns reißt der Sturm fort! Armes Volk, du wirst, gegen den Willen der Götter kämpfend, diesen Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du, Turnus, wirst dem Strafgerichte des Himmels nicht entgehen! Ich aber glaubte schon im Hafen zu sein und hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht einmal einen friedlichen Tod!«
Der Götterkönigin Juno, der Feindin Trojas, dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerstadt stand ein 358
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfosten, von hundert ehernen Riegeln verschlossen; sein Hüter ist Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben und Tod beschließen, so öffnet der König selbst im feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfosten. Dieses zu tun ermahnte das Volk jetzt auch seinen König Latinus; er aber weigerte sich dieses gräßlichen Dienstes und verbarg sich in die tiefste Einsamkeit seines Palastes. Da schwang sich Juno selbst vom Himmel hernieder, stieß mit eigener Götterhand an die widerstrebenden Pfosten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die ehernen Pforten des Kriegstempels auseinander.
AUSBRUCH DES KRIEGES. ÄNEAS SUCHT BEI EUANDER HILFE
Ganz Italien, so ruhig und friedsam es vorher war, geriet in plötzlichen Brand. In allen Häusern wurden die Schilde geglättet, die Speere gespitzt, die Äxte am Schleifstein gewetzt; die Trompeten riefen zum Marsche, die Fahnen flatterten. Alle Männer griffen zu den Waffen, die einen zogen zu Fuß ins Feld, die andern wirbelten hoch zu Rosse den Staub des Weges auf, Streitwagen flogen hinter schnaubenden Pferden daher, die Ebenen glänzten von Gold und Eisen, von Panzer und Schwert. Aus allen Städten Hesperiens kamen die ersten Sprößlinge der alten Heldengeschlechter hervor, deren Ahnen zum Teile Götter und Göttersöhne waren. Unter den ersten schritt in männlicher Schönheit Turnus voran, seine herrlichen Waffen in der Hand, um einen ganzen Scheitel über die andern hervorragend. Ein dreifacher Busch wehte von seinem Helm, auf dessen Kuppel die glutatmende Chimära abgebildet war; auf seinem Schilde war in getriebener Arbeit Io abgebildet, wie sie eben zur Kuh wird, ihr Hüter Argus und ihr Vater Inachus, der den Strom aus der Urne gießt. Hinter Turnus und seinen Helden drängten sich die Latiner und Rutuler, Aurunker, Sikaner und eine Menge ausonischer Völkerschaften; beschildete Fußgänger, vor allen Mezentius mit seinem Sohne Lausus, Aventinus, der Sohn des Herkules und der Rhea, Katillus und Koras, die Brüder des Tiburtus aus Tibur, und viele andere; dann kam die Reiterei der Volsker, schimmernd in Erzpanzern, geführt von ihrer jungfräulichen Fürstin Kamilla. Diese hatte ihre weiblichen Hände nie an Minervas Rocken und Webstuhl gewöhnt, im rauhen Männerkampfe war sie aufgewachsen, auf ihrem flüchtigen Rosse hatte sie mit den Winden in die Wette laufen gelernt; sie flog so luftig dahin, daß sie über die Saatflur gesprengt wäre, ohne ein Hälmchen zu rühren, ohne eine Ähre zu knicken, und über die Meerflut, ohne die Sohlen zu netzen. Alt und jung blickte ihr verwundert nach, wie sie mit ihrer Schar durch Städte und Dörfer zog, den königlichen Purpur über die runden Schultern geworfen, das reiche Haar mit einer goldnen Nadel aufgebunden, Köcher und Bogen auf der Achsel und die scharfe Lanze in der Hand.
Diese gewaltigen Kriegsrüstungen erfüllten den Äneas und seine Trojaner mit schweren Sorgen. Da erschien jenem im Traume der Flußgott Tiberinus und stieg in meerblauem Kleide, die Haare mit einem Schilfkranze beschattet, zwischen Pappelstauden in Greisengestalt aus dem Strom empor. »Göttlicher Held«, sprach er, »verzage nicht! Der Groll der Himmlischen gegen dich ist verschwunden. Damit du nicht wähnest, ein nichtiges Traumbild zu schauen, will ich dir ein Zeichen sagen. Unter den Eichen des Ufers wirst du ein großes
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