Sagen des klassischen Altertums
jeder Teil meines Palastes zeigt mir unermeßliche Schätze; dazu kommt ein Antlitz, wie es einer Göttin wert ist, dazu eine Kinderschar, wie keine Mutter sie aufweisen kann: sieben blühende Töchter, sieben starke Söhne, bald ebenso viele Eidame und Schwiegertöchter. Fraget nun, ob ich auch Grund habe, stolz zu sein! Waget es noch ferner, mir Latona, die unbekannte Titanentochter, vorzuziehen, welcher einst die breite Erde keinen Raum gegönnt hat, wo sie dem Zeus gebären konnte, bis die schwimmende Insel Delos der
Umherschweifenden aus Mitleid ihren unbefestigten Sitz darbot. Dort wurde sie Mutter zweier Kinder, die Armselige. Das ist der siebente Teil meiner Mutterfreude! Wer leugnet, daß ich glücklich bin, wer zweifelt, daß ich glücklich bleibe? Die Schicksalsgöttin hätte viel zu tun, wenn sie gründlich meinem Besitze schaden wollte! Nähme sie mir dies oder jenes, selbst von der Schar meiner Gebornen, wann wird je ihr Haufe zu der armen Zwillingszahl Latonens heruntersinken? Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren mit dem Lorbeer! Zerstreuet euch in eure Häuser und laßt euch nicht wieder über so törichtem Beginnen treffen!«
Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupte, ließen die Opfer unvollendet und schlichen nach Hause, mit stillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.
Auf dem Gipfel des delischen Berges Kynthos stand mit ihren Zwillingen Latona und schaute mit ihrem 58
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Götterauge, was in dem fernen Theben vorging. »Seht, Kinder, ich, eure Mutter, die auf eure Geburt so stolz ist, die keiner Göttin außer Hera weicht, werde von einer frechen Sterblichen geschmäht; ich werde von den alten heiligen Altären hinweggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beschimpft, werdet ihrem Kinderhaufen von ihr nachgesetzt!« Latona wollte zu ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbos unterbrach sie und sprach: »Laß die Klage, Mutter, sie hält die Strafe nur auf!« Ihm stimmte seine Schwester bei; beide hüllten sich in eine Wolkendecke, und mit einem raschen Schwung durch die Lüfte hatten sie die Stadt und Burg des Kadmos erreicht. Hier breitete sich vor den Mauern ein geräumiges Blachfeld aus, das nicht für die Saat bestimmt, sondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wagen gewidmet war. Da belustigten sich eben die sieben Söhne Amphions: die einen bestiegen mutige Rosse, die andern erfreuten sich des Ringspieles. Der älteste, Ismenos, trieb eben sein Tier im Viertelstrabe sicher im Kreise um, das schäumende Maul ihm bändigend, als er plötzlich: »Wehe mir!«
ausrief, den Zaum aus den erschlaffenden Händen fahren ließ und, einen Pfeil mitten ins Herz geheftet, langsam rechts am Buge des Rosses heruntersank. Sein Bruder Sipylos, der ihm zunächst sich tummelte, hatte das Gerassel des Köchers in den Lüften gehört und floh mit verhängtem Zügel, wie ein Steuermann vor dem Wetter jedes Lüftchen in den Segeln auffängt, um in den Hafen einzulaufen. Dennoch holte ihn ein durch die Luft schwirrender Pfeil ein, zitternd haftete ihm der Schaft hoch im Genick, und das nackte Eisen ragte zum Halse heraus. Über die Mähne des galoppierenden Pferdes herab glitt der tödlich Getroffene zu Boden und besprengte die Erde mit seinem rauchenden Blut. Zwei andere, der eine hieß wie sein Großvater, Tantalos, der andere Phaidimos, lagen miteinander ringend, in fester Umschlingung Brust an Brust verschränkt. Da tönte der Bogen aufs neue, und wie sie vereinigt waren, durchbohrte sie beide ein Pfeil.
Beide seufzten zugleich auf, krümmten die schmerzdurchzuckten Glieder auf dem Boden, verdrehten die erlöschenden Augen und hauchten mit einem Atem die Seelen im Staub aus. Ein fünfter Sohn, Alphenor, sah diese fallen; die Brust sich schlagend, flog er herbei und wollte die erkälteten Glieder der Brüder durch seine Umarmungen wieder beleben, aber unter diesem frommen Geschäfte sank er auch dahin, denn Phöbos Apollo sandte ihm das tödliche Eisen tief in die Herzkammer hinein, und als er es wieder herauszog, drängte sich mit dem Atem das Blut und das Eingeweide des Sterbenden hervor. Damasichthon, den sechsten, einen zarten Jüngling mit langen Locken, traf ein Pfeil in das Kniegelenk; und während er sich rückwärts bog, das unerwartete Geschoß mit der Hand herauszuziehen, drang ihm ein anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund hinab in den Hals,
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