Sagen des klassischen Altertums
zerrissen ihn. Sie warfen die Teile seines Körpers in den Wald, in den Fluß und hackten ihm zum Schluß den Kopf ab, damit er endlich mit dem Singen aufhöre. – Aber der Kopf des Orpheus sang weiter. – Sie nagelten den Kopf an die heilige Lyra und warfen dieses ganze Singwerk in den Fluß.
Und so trieb der Kopf des Orpheus, genagelt an die Lyra, den Fluß hinunter, Orpheus immer noch singend, nach seiner Eurydike rufend, dazu klang die Lyra des Apoll. Und der Fluß brachte seine Gabe ins Meer, und Lyra und Kopf wurden auf der Insel Lesbos angespült.
Auf Lesbos wurde dem Orpheus ein Tempel errichtet, unaufhörlich sang er weiter, sang weiter, weissagte in seinem Gesang, machte sogar dem Orakel in Delphi Konkurrenz, bis es schließlich seinem Vater, dem Gott Apoll, zuviel wurde, und er sagte, er solle still sein. – Nun schwieg Orpheus endlich.
Aber es gibt da noch eine kleine, sehr schöne Sage: Nämlich an der Stelle, an der Orpheus von den aufgebrachten Frauen erschlagen und zerrissen wurde, soll später einmal ein Hirtenknabe gesessen haben und eingeschlafen sein, und im Traum soll dieser Hirtenknabe zu singen begonnen haben, und zwar so bezaubernd schön, daß die Hirten der Umgebung und die Tiere und vielleicht sogar die Bäume herangekommen seien, um zuzuhören. Und als der Knabe erwachte, sah er all diese Leute und Tiere und Pflanzen um sich, und er hörte nicht auf, mit seiner traumwandlerischen Stimme zu singen, und es heißt, er habe gesungen, als wäre es die unsterbliche Stimme des Orpheus gewesen, der aus dem Totenreich herüberriefe.
Manche behaupten, daß an eben demselben Fluß der erste, der große Dichter des Abendlandes geboren wurde, nämlich Homer. Die Sage behauptet es; genauer muß man sein: eine Sage behauptet das. Mir behagt diese Sage. Homer, denke ich mir, wird von der Wiege aus in den Himmel geblickt und dort die Lyra des Orpheus gesehen haben. Denn Zeus selbst soll die Lyra des großes Sängers als Sternbild an den Himmel geheftet haben, und vielleicht hat Homer von dort die Eingebung zu seinen großen Gesängen empfangen …
Europa und ihr Bruder Kadmos
Von Europa und dem Stier – Von Kadmos und einer
Kuh mit Fleck – Von gesäten Schlangenzähnen – Von
der Errichtung der Stadt Theben – Von einer herrlichen
Hochzeit
In der Gegend von Palästina, vielleicht siebzig Kilometer südwestlich von Beirut, lag die Stadt Tyros. In Tyros herrschte der König Agenor. Er war ein Sohn des Poseidon, des Meeresgottes. Die ganze Welt, samt Himmel und Unterwelt, wurde ja von den drei Brüdern Zeus, Hades und Poseidon beherrscht. Zeus herrschte über den Himmel und die Erde, Poseidon über die Gewässer und Hades über die Unterwelt.
Agenor war ein Sohn des Poseidon, und er hatte eine lieblich anzusehende, zarte, vielleicht etwas naive Tochter, und diese Tochter hieß Europa. Sie mochte es, mit ihren Freundinnen am Meer zu spielen. Dort wurde sie eines Tages von Zeus beobachtet.
Und der Göttervater konnte einem so hübschen Mädchen nicht lange zusehen, ohne daß er von Begierde nach ihr entflammt wurde, und so geschah es auch bei Europa. Er sah ihr zu, wie sie mit ihrem Blumenkörbchen über den Strand tanzte und mit ihren Freundinnen spielte. Da verwandelte er sich in einen Stier – und zwar in einen sehr stattlichen, weißen, schneeweißen Stier, dessen Haut von einer zarten, samtenen Fellschicht überzogen war. Er stieg aus dem Wasser und trottete über den Strand. In einigem Abstand vor Europa blieb er stehen, bewegte sich nicht. Die Mädchen erschraken und rannten alle weg. Nur Europa, ich sagte es schon, sie war wohl ein wenig naiv, sie betrachtete voll Erstaunen das gewaltige Tier. Vor allem der Blick dieses Tieres hatte es ihr angetan. Der Stier hielt den Kopf leicht gesenkt, und seine blauen Augen sahen sehr schüchtern und treuselig drein.
Und Europa machte Anstalten, sich dem Stier zu nähern. Der Stier hatte so eine große Halsfalte. Merkwürdigerweise wird überall auf diese Halsfalte hingewiesen, ich weiß gar nicht warum, aber ich tue es hier auch. Er hatte eine große Halsfalte und zierliche Hörner, die aus Edelsteinen waren, und er war ganz zahm. Er ließ sich von Europa streicheln, er legte seinen Kopf an ihre Seite, und schließlich faßte sie Mut und setzte sich auf seinen Rücken. Nun machte der Stier ein paar Schritte, er ging langsam im Kreis umher, und die Mädchen kamen aus ihren Verstecken und freuten sich und wollten auch auf den Rücken
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