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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hindurch.
    Bevor sich die Freier fassen können, hat Odysseus schon den zweiten Pfeil an der Sehne. Der zweite Pfeil trifft den Anführer der Freier, den zynischen Antinoos, genau im Hals. Als Eurymachos, ein anderer Freier, mit Odysseus verhandeln will, trifft ihn ein Pfeil mitten ins Herz.
    Nun geht ein Pfeilhagel von der Galerie auf die Freier nieder, oben stehen Telemach, der Sohn, Laertes, der Vater, und die anderen Verbündeten. In einem unglaublichen Massaker bringen Odysseus und seine Freunde die ganze Freierschaft um, bis am Schluß nicht einer mehr übrigbleibt. Die Mägde, die es mit den Freiern getrieben haben, werden an den Türstöcken aufgehängt.
    Schließlich, am Ende der Geschichte, am Ende der Odyssee, kommt es zur Begegnung zwischen Odysseus und Penelope. Die beiden müssen knöcheltief im Blut gestanden haben.
    Sie erkennt ihn nicht, Odysseus ist immer noch als alter, zerlumpter Bettler verkleidet.
    Er tritt vor sie hin und sagt: »Ich bin dein Mann. Ich bin Odysseus.«
    Aber sie glaubt ihm nicht, kann ihm nicht glauben. Sie ist voller Angst und voller Zweifel. Sie stellt ihn auf die Probe, sie sagt: »Gut, wenn du es bist, dann wirst du sicher über ein Geheimnis Bescheid wissen, das nur wir beide kennen. Aber du kannst es mir morgen erzählen. Heute war schon genug los. Ich werde einer von den Mägden, die noch am Leben sind, den Auftrag geben, dein Bett aus unserem Schlafzimmer zu tragen. Wenn du mir dann morgen das Geheimnis erzählt hast und ich überzeugt bin, daß du Odysseus bist, dann holen wir das Bett wieder zurück.«
    Odysseus wird nun sehr wütend und sagt: »Was heißt das, mein Bett aus dem Schlafzimmer heraustragen! Hast du etwas ändern lassen? Unsere Betten kann man erstens nicht trennen, und zweitens kann man sie nicht aus dem Schlafzimmer herausnehmen. Denn sie sind aus dem Stamm eines alten Olivenbaumes herausgeschnitzt worden.«
    Das aber war eben das Geheimnis, das nur Penelope und ihr Mann kannten.
    Nun tritt Pallas Athene auf und verwandelt den zerlumpten Bettler Odysseus wieder zurück in den strahlenden Helden, und die beiden Eheleute haben sich, und sie schließen sich in die Arme.

Nachwort
     
     
    Mein Vater hat mir die klassischen Sagen des Altertums erzählt, sein Ziel war es, mich auf diese Weise in die humanistische Bildung einzugewöhnen; meine Großmutter hat wacker mit den Grimmschen Märchen dagegengehalten. Sie war der Meinung, allzuviel Bildung verderbe den Charakter. Ich war süchtig nach ihrer beider Erzählungen. Märchen und Sagen vertrugen sich in meinem Ohr geschwisterlich.
    Ich habe sehr bald die Erfahrung gemacht, daß es nicht genügt, sich diese Geschichten nur anzuhören. Man muß sie selbst erzählen. Man muß sie erzählend weiterspinnen. So und nur so eignet man sich diesen Schatz an. Erzählen heißt ja nicht nur etwas weitergeben, was man weiß; der Erzähler weiß vielleicht mehr als der eine oder andere seiner Zuhörer, aber er weiß nicht viel mehr. Erst während des Erzählens verschafft er sich Gewißheit, erst während er die Geschichten ausbreitet, beginnt er sie zu begreifen, versteht er, daß sie aus unendlich vielen Schichten aufgebaut sind, von denen nur eine bestimmt ist, von ihm freigelegt zu werden. Deshalb ist Erzählen, selbst das einfachste Nacherzählen, immer auch Erfinden. Nur so wird der Reichtum der Mythologie verständlich.
    Odysseus kennt jeder. Wer aber kennt seinen Vater? War Laertes sein Vater, wie Homer behauptet? Oder war es Sisyphos, der freche Erzschelm, der Lästerer, der zweimal sogar den Tod überlistet hat und dafür im Hades neben Tantalos die schlimmsten Qualen erleiden muß? Wer aber ist Tantalos, und wofür wird er bestraft? War sein Vergehen, daß er seinen Sohn Pelops schlachtete und ihn den Göttern als Speise vorsetzte? Oder aber interessierte das die Götter gar nicht, und er wurde lediglich verdammt, weil er an ihrer Allwissenheit zweifelte? Was war mit Pelops? Ist es wahr, daß er wieder zum Leben zusammengebaut und unendlich reich wurde, daß noch heute eine Insel nach ihm benannt ist – der Peloponnes?
    Gleichgültig, wo man zu fragen beginnt, unerheblich, mit welcher Geschichte man anfängt, immer ist man mitten drin. Eine Figur verweist auf die andere, eine Geschichte nährt sich von der anderen, eine Begebenheit baut auf einer anderen auf, die Gründe für die eine Tat wurzeln in einer anderen. Die griechische Mythologie ist ein Netz, das die gesamte menschliche Existenz umspannt. Himmel,

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