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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoîte Groult
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Arbeitsenergie, die aufzubringen er fähig war, es in einem, maximal in fünf Jahren geschafft haben würde. Wozu sollten Mut und verbissener Fleiß gut sein, wenn sie an einem solchen Hindernis scheiterten? Er hätte mir nicht geglaubt, wenn ich ihm gesagt hätte, daß Bücher und persönliche Strebsamkeit nicht alles sind. Solch grausame Ungerechtigkeit akzeptierte er nicht. Ich habe weniger gute Gründe gewählt, die ihm aber akzeptabler schienen, kleinlicher auch, was ihn in gewisser Weise beruhigte. Aber derjenige, der die Sprache der Vernunft spricht, ist derjenige, der am wenigsten liebt. Diese Wahrheit kannte Gauvain bereits.
    Einen Zug nach Quimperlé gab es an jenem Abend nicht mehr. In mir stieg ein Freudenschwall hoch. Er mußte sich also noch einmal neben mich legen, dieser Rohling, dessen Feindseligkeit ich auf greifbare Weise wachsen spürte. Im Hotel verlangte er ein anderes Zimmer, aber es gab keines. Ich verbarg meine Befriedigung.
    Kaum waren wir oben, packte er seinen Koffer, indem er seine Habseligkeiten durcheinander hineinwarf, wie im Kino; dann zog er sich aus ‒ daß er mir den Anblick seiner Geschlechtsorgane entzog, war als Repressalie gedacht. Im Bett überwältigte mich wieder sein penetranter Duft nach warmem Korn, aber er drehte mir den Rücken zu, jenen weißen Rücken der Seeleute, die niemals Zeit noch Lust haben, sich der Sonne auszusetzen. Sein braungebrannter Nacken wirkte wie aufgesetzt, ich dachte an die Kartenspiele, wo man den Kopf und den Rumpf der Figuren austauschen kann. Einen Augenblick irrten meine Lippen über diese Grenzlinie und über die Haarkringel seines kindlichen Nackens, aber er rührte sich nicht. Die Macht seiner Verweigerung war wie ein eisiger Hauch, der mich so sehr lähmte, daß ich schlaflos auf dem Rücken liegenblieb, so nahe an seinem Körper, wie es ging, ohne ihn zu berühren.
    Mitten in der Nacht spürte ich, daß seine Abwehr sich lockerte, ich konnte nicht umhin, meinen Bauch an seinen Rücken zu schmiegen und meine Wange auf seine Schulter zu legen. In der Stille des Halbschlafs hatte ich den Eindruck, daß unsere tieferen Wesen sich umklammerten, den Abschied verweigerten und sich bitterböse lustig machten über meine Skrupel. Unser bewußtes Ich war nicht mehr gefragt, längst signalisierten sich unsere Körper neues Einverständnis. Sie riefen nacheinander. Gauvain wollte nichts davon hören, aber das lag nicht mehr in seiner Macht. Plötzlich hat er sich umgedreht und sich auf mich geworfen, und ohne Mitwirken seiner Hände ist er in einem Stoß in mich eingedrungen. Es ist ihm sofort gekommen, und dabei hat er geglaubt, mich zu demütigen, aber seine Lippen blieben fest auf meinen, und wir sind eingeschlafen, ineinander verstrickt, uns gegenseitig atmend, bis der unerfreuliche Morgen graute.
    Im fahlen Bahnhofshallenlicht von Montparnasse konnten wir uns nicht küssen. Er hat einfach seine Schläfe an meine Wange gelegt, wie er es bei der ersten Begegnung getan hatte, und ist in seinen Waggon eingestiegen. Dann hat er sich gleich abgewandt, um sein hilfloses Knabengesicht vor mir zu verbergen, und das Herz voller Tränen, den Kopf voller komplizierter Gedanken, habe ich den Bahnhof verlassen: Herz und Kopf arbeiteten unabhängig, als gehörten sie nicht derselben Person.
    Kein Passant würdigte mich eines Blickes, ich schritt voran, jenes wahnwitzigen Begehrens beraubt, das ich gestern noch hervorrief, zurückgeworfen in die Gleichgültigkeit der Welt. Erschauernd fühlte ich das Alleingelassensein, und ich verfluchte unsere Unfähigkeit, nach unserem Herzen zu leben, meine vor allem, aber auch die Gauvains, selbst wenn er sie erst später an sich entdecken würde. Aber ich wußte, daß ich hoffnungslos gefangen war in meinen geliebten, noch kindheitswarmen Vorurteilen. Und aufgrund jener Strenge, die mir damals die Persönlichkeit ersetzte, konnte ich ihm vieles nicht verzeihen: seine Unbildung, seine Art, unentwegt zu fluchen, seine Neigung für Blousons mit Glanzeffekt und für auf Socken getragene Riemchensandalen, sein sarkastisches Lachen angesichts abstrakter Malerei, die er tags zuvor im Museum mit wenigen Sätzen von makaber gesundem Menschenverstand abserviert hatte. Genausowenig seine ausgeprägte Vorliebe für Rina Ketty, Tino Rossi und Maurice Chevalier, haargenau die Sänger, die ich haßte und die ich meinerseits mit ein paar messerscharfen Sätzen vernichtet hatte! Ich verzieh ihm nicht seine Art, das Brot aus der Hand und

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