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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoîte Groult
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sein Fleisch im voraus auf dem Teller zu schneiden, und auch nicht die Dürftigkeit seines Wortschatzes, die Zweifel an seinem Denken aufkommen ließ. Es hätte wahrhaftig viel getan werden müssen, zu viel. Und im übrigen ist fraglich, ob er überhaupt damit einverstanden gewesen wäre, er, der der Bildung diffuses Mißtrauen und im Grunde wenig Achtung entgegenbrachte, denn nur allzugern rückte er sie in die Nähe des Snobismus. Schließlich werden die armen Leute mit gebildeten Worten eingelullt, und genau auf diese Weise betrügen uns die »Bonzen«, so seine Ansicht, »hinten und vorne und allesamt«, wie er ebenfalls sagte. Den Gedanken, daß die Politiker alle korrupte Schwätzer seien, würde man ihm nicht austreiben können, alle bis auf die Kommunisten vielleicht, die er systematisch wählte, nicht so sehr aus Überzeugung als aus Berufstradition. An Bord leben die Hochseefischer in einem Gemeinschaftssystem und werden anteilig bezahlt, je nach Fangergebnis. Gauvain war sehr stolz darauf, kein gewöhnlicher Lohnempfänger zu sein. In seinen Kreisen galten Fachkenntnisse, Ehrlichkeit und Mut am meisten, Gesundsein war eine Tugend und Müdesein ein Makel, der unmittelbar mit Faulheit in Verbindung gebracht wurde. Die Arbeit wurde an ihrer Nützlichkeit gemessen, niemals an der dafür aufgewendeten Mühe oder Zeit.
    Bei uns Parisern, die wir mit der künstlerischen Avantgarde liebäugelten (mein Vater verlegte eine Zeitschrift für moderne Kunst), galt die Ehrlichkeit als eine etwas lächerliche Eigenschaft, außer bei Dienstmädchen. Man hatte den Gestrandeten und den Müßiggängern gegenüber alle Nachsicht, vorausgesetzt, sie besaßen Esprit und wußten sich zu kleiden; auch den Gesellschaftsalkoholikern gegenüber hegte man eine gewisse Zärtlichkeit, während die Dorfsäufer verachtet wurden. Sich mit einem Hochseefischer zu schmücken hätte einen Abend lang zur Unterhaltung beigetragen: Meine Eltern liebten Seemannslieder und mit Ankern aus Messing verzierte Ledergürtel, die an Bord geflochten wurden, sie liebten die großen bretonischen Mützen, die nur noch von Sommerfrischlern getragen wurden, und die kunstvoll verwaschenen roten oder marineblauen Leinenanzüge, die denen der Fischer in nichts nachstanden, ganz im Gegenteil. Sie liebten es, sich beim Verlassen eines Ladens mit »kenavo« zu verabschieden, und waren entzückt, daß der Bäcker den typisch bretonischen Bauernnamen Corentin trug. Mein Vater pflegte sogar ‒ zehn Minuten im Jahr ‒ echte Holzschuhe und die dazu passenden schwarzen Socken mit blauen Punkten anzuziehen. »Es gibt nichts Praktischeres«, verkündete er, »wenn man einen Garten hat!«
    Fast hätte er sich noch eine Handvoll Stroh beschafft zum Reinstecken: »Das ist ja so gesund!«
Aber echte Hochseefischer aus Fleisch und Blut anderswo als in der Fischversteigerungshalle oder an Bord ihres Thunfischkutters oder ihres Trawlers, auf denen sie so hehr, so schmuck aussahen mit ihren gelben Gummimänteln und ihren schenkelhohen Stiefeln (»Diese Typen, ich muß sagen, die bewundere ich!«) ‒ igittigitt! Ein echter Seemann auf dem Teppichboden einer Pariser Wohnung, mit einem Blouson aus Chinéstoff und schwarzen Fingernägeln ‒ igittigitt! 1950 waren die sozialen Schranken noch sehr hoch. Ich traute es mir nicht zu, Gauvain an mein Milieu anzupassen, ihn ins Tintenfaß der Kultur einzutauchen. Und ich wollte mich auch nicht in sein Milieu verpflanzen, ich wäre eingegangen. Die Grausamkeit meiner Familie und das Schicksal, das ihm beschieden gewesen wäre, wenn er mich geheiratet hätte, konnte er nicht richtig einschätzen, aber genausowenig konnte er sich die intellektuelle Einsamkeit vorstellen, die ich unweigerlich an seiner Seite erlebt hätte. »Man macht nicht so viel Gesums wegen dem Leben, das man lebt«, hatte er am letzten Abend mit kaum verhohlener Feindseligkeit gesagt. »Man nimmt's, wie's kommt.«
Das war es eben: Ich, ich brauchte das »Gesums«. Er hatte versprochen anzurufen, bevor er wieder an Bord ging, und diese Aussicht milderte die Brutalität der Trennung, auch wenn ansonsten keine Hoffnung war. Aber telephonieren konnte er nicht, das hätte ich wissen müssen. Der Apparat, der erst unlängst im zugigen Eingangsflur des Hofes installiert worden war, kam ihm vor wie ein Unheilsverkünder, er war höchstens dazu gut, eine Verabredung abzusagen oder einen Todesfall zu melden. Er sprach laut und betonte jede Silbe, als ob er mit einer Schwerhörigen

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