Samuel Carver 05 - Collapse
SMS von Alix: Stecke im Stau, komme aber, ob du willst oder nicht haha! Ax
Carver verzog das Gesicht. Er hatte versucht ihr die Teilnahme auszureden, doch sie war nicht der gehorsame Typ; sonst wäre er auch gar nicht an ihr interessiert. Diesmal war es jedoch ernst. Es war für sie lebensgefährlich. Er musste sich etwas einfallen lassen, um sie fernzuhalten.
Während er auf sein Handydisplay blickte, bemerkte er aus den Augenwinkeln einen Kellner, der eine Champagnerflasche abstellte und auf die Uhr sah. Doch er beachtete ihn nicht weiter. Das menschliche Gehirn interessiert sich nicht für Menschen oder Dinge, die am gewohnten Ort sind und sich erwartungsgemäß verhalten. Doch bei etwas Unerwartetem merkt es sofort auf. Es ahnt eine drohende Gefahr, und sofort erfolgt die Angriff- oder Fluchtreaktion.
Gerade als Carver auf Senden drückte, entfernte sich der Kellner von dem Tisch, und dieses unerwartete Verhalten wirkte wie ein Weckruf. Carver war augenblicklich konzentriert und gespannt. Dieser Kellner hatte sich in Bewegung gesetzt wie jemand, dem etwas klar geworden war und der darauf eine Entscheidung gefällt hatte. Das allein war noch nicht verdächtig. Ein gelangweilter Mann, der für kleines Geld jobbte, sah auf die Uhr, weil er wissen wollte, wie lange seine Schicht noch dauerte, und beschloss dann, es sei besser, etwas Sinnvolles zu tun, ehe er sich einen Anschiss einhandelte. Doch warum ließ er dann die Champagnerflasche stehen? Und wieso sah seine Uhr aus wie eine Rolex? Natürlich konnte es eine billige Kopie sein. Oder war die Uhr echt und der Kellner falsch? Kein halbwegs anständig ausgebildeter Polizist oder Geheimdienstmitarbeiter würde solch einen grundlegenden Fehler machen. Der Mann musste also ein Amateur sein. Vielleicht ein Journalist oder ein Paparazzo mit versteckter Kamera, was ziemlich ärgerlich, aber keine Bedrohung wäre. Oder der Mann hatte ernsthaft feindliche Absichten. Der Anschlag auf Rosconway war professionell geplant, aber von blutigen Anfängern ausgeführt worden, von ein paar Dummköpfen, die benutzt und beseitigt worden waren. Hatte Zorn für den Empfang etwas Ähnliches geplant?
Carver brauchte nur Sekunden für seine Überlegungen. Er erwog und verwarf die verschiedenen Möglichkeiten nur halb bewusst im Hinterkopf, während er zusah, wie der Kellner sich durch die Leute drängte und den Personalausgang ansteuerte. Und dann flammte ein Wort in seinem Kopf auf wie ein Neonschriftzug: Zorn.
Nein, unmöglich. Zorn war ein gesuchter Verbrecher. Er war doch sicher so schlau und hatte begriffen, dass ein inoffizielles Todesurteil an ihm vollstreckt werden würde. Es wäreeine Riesentorheit, sich in einen Saal voller Leute zu mischen, umgeben von bewaffneten Dienern des Staates, den er öffentlich gedemütigt, und von den Reichen und Mächtigen, die er heimlich abgezockt hatte.
Oder hier handelte ein äußerst selbstsicherer, arroganter Mann, der von seiner Überlegenheit über das gemeine Volk überzeugt war, der süchtig nach der Herausforderung war, einen Kampf gegen überwältigend schlechte Chancen zu gewinnen.
Der Kellner hatte nicht ausgesehen wie Zorn, aber das war nur oberflächlich betrachtet so. Er besaß lange, dunkle Haare anstelle von kurzen, blonden, hatte einen dicken Schnäuzer, während Zorn stets glattrasiert war, und trug schwere Brillengläser. Körpergröße und Körperbau stimmten jedoch.
Carver konnte nicht sicher sein, dass der Mann wirklich Zorn war. Der Kellner war vielleicht echt und harmlos und Carvers Verdacht ein Zeichen für ausgeprägte Paranoia. Doch gerade seine Bereitschaft, in den harmlosesten Umständen Gefahr zu vermuten, hatte ihn in all den Jahren vor dem vorzeitigen Tod bewahrt.
Ehe er das Problem ganz durchdacht hatte, schob er sich unter barschen Entschuldigungen zwischen den Gästen durch, um der Fährte des Kellners zu folgen.
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Die Goldsmiths’ Hall ist ein allein stehendes Gebäude und an vier Seiten von Straßen umgeben. Der Haupteingang liegt an der Foster Lane, die Rückseite, wo sich eine Münzprüfanstalt befindet, liegt an der Gutter Lane. Malachi Zorn verließ das Haus jedoch durch die Seitentür an der Gresham Street. Er wandte sich nach rechts, überquerte die Straße und verschwand im Eingang der Wax Chandlers’ Hall. Auch sie nimmt einen Straßenblock ein; ihre Ostseite verläuft an der Gutter Lane parallel zur Rückseite der Goldsmiths’ Hall.
Die Leute der Antiterroreinheit auf dem nächsten Dach
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