Samuel Carver 05 - Collapse
beobachteten ihn und stellten fest, dass sein Äußeres mit dem als Kellner eingetragenen Polen namens Jerzy Kowalski übereinstimmte. Sie sahen ihn auf die privaten Wachmänner am Eingang der Wax Chandlers’ Hall zugehen, und die ließen ihn ins Haus.
»Typisch Pole«, brummte einer der Beobachter. »Hat glatt noch einen Zweitjob heute Abend.«
»Das gönne ich ihm«, erwiderte sein Kollege über Funk. »Unsere Jugendlichen kriegen den Arsch nicht hoch. Man kann es den Polen nicht vorwerfen, dass sie bereit sind zu schuften.«
»Jedenfalls sollten wir das melden.«
Sie informierten die Einsatzzentrale, aber das war eine reine Formalität. Der Kellner verließ den Empfang. Hätte er etwas Hässliches zurückgelassen, wäre er nicht ins Nachbarhaus gegangen, sondern hätte sich auf dem schnellsten Wege aus dem Staub gemacht.
Carver wollte es nicht glauben. Gerade eben verfolgte er noch den Kellner, jetzt stieß er auf ein undurchdringliches Gedränge, das sich wie aus dem Nichts gebildet hatte. Ein legendäres Supermodel war mit einem Multimilliardär ins Gespräch vertieft, dem Besitzer eines erfolgreichen Fußballclubs, und ihr Ruhm, Sexappeal und enormer Reichtum zog selbst in dieser hochrangigen Gesellschaft die Leute an. Carver kam nicht durch und musste um den Pulk herumgehen. Bis ihm das gelungen war, hatte er den Kellner aus den Augen verloren. Möglich, dass der im Saal geblieben war, aber wenn, wäre eine Suche vergeblich. Darum ging Carver auf gut Glück durch die Personaltür. Dahinter herrschte das unübersichtliche Getümmel, das erforderlich war, um fünfhundert Gäste konstant mit Getränken und Kanapees zu versorgen. Er versuchte, den bebrillten Schnurrbartträger zu entdecken, aber der war verschwunden.
Im Saal breitete sich gespannte Erwartung aus. Einer von Drinkwaters Betreuern war hinter den Rollstuhl getreten und schob ihn auf die Bühne zu, die an der Schmalseite vor der Vitrine errichtet worden war. Seine Kollegen gingen dabei voraus, um ihm Platz zu verschaffen. Der Conférencier für den Abend war ein bekannter Nachrichtensprecher. Er erhielt zwanzigtausend Pfund für eine zweiminütige Ansage, die wie er glaubte von Zorns PR-Leuten verfasst worden war. Tatsächlich aber stammte sie aus der Feder der Redenschreiber des Premierministers und war vom Generalstaatsanwalt gründlich geprüft worden.
Es war äußerst wichtig, dass die Plattitüden und schalen Witze des Nachrichtensprechers nichts enthielten, das die Regierung belasten könnte, sollte die Täuschung einmal öffentlich gemacht werden. Nun begab sich derNachrichtensprecher nach vorn. Das Ganze wurde für die Gäste auf zwei große Leinwände an den Saalenden übertragen. Er blickte auf den Teleprompter zu seiner Rechten und räusperte sich, um das Mikro zu testen. Neben ihm war ein kleines Podium mit einer Rampe aufgebaut, auf dem ein niedriges Katheder mit einem Mikrofon stand. Daran würde der Mann, den er für Zorn hielt, zu den Gästen sprechen.
Unten im Saal blickte Ginger über die Köpfe der geringeren Sterblichen hinweg, um den Weg des Rollstuhlfahrers und seiner Entourage zu beobachten. Drinkwater würde die Bühne etwa in einer Minute erreichen, schätzte sie. Dann würde es noch eine Minute dauern, bis er richtig stand und das Mikro für ihn eingestellt war, damit er bequem hineinsprechen konnte. Ginger gab noch zweieinhalb Minuten für die Begrüßung des Nachrichtensprechers dazu, und für den Applaus, der unweigerlich folgen würde. Alles in allem würde Drinkwater in fünf Minuten seine Rede beginnen.
Sie nahm das Telefon aus ihrer Abendtasche und verschickte eine kurze SMS: in fünf Minuten
Sie wartete, bis die Antwort einging: roger
Dann drehte sie sich um und verließ den Saal.
90
Dieser verflixte Londoner Verkehr! Und überall Sicherheitskontrollen! Alix war schon angespannt genug, da sie dringend Carver wiedersehen wollte und gleichzeitig fürchtete, wie Azarow auf sie reagieren könnte, wenn sie ihm persönlich gegenüberstand. Sie konnte nur hoffen, dass er in Gegenwart so vieler Leute sein Temperament im Griff behielte. Dass sie sich nun so stark verspätete, machte alles noch schlimmer. Doch dann hatte sie genug von dem Stau. Sie bezahlte den Taxifahrer und rannte los, betete, ihre hohen Absätze mögen nicht abbrechen oder in einer Pflasterritze stecken bleiben. Es dauerte nicht lange, da fand sie die leichte Sommerjacke und die Nylonstrümpfe, die sie wegen des kühlen Wetters angezogen hatte,
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