Sandra und das Haus in den Hügeln
„Warst du schon an unserem Stand?“ erkundigte sie sich.
„Ja, ihr nicht?“
„Nein, wo ist er denn?“
„In der Langenstraße. Gleich um die Ecke. Ich glaube, der vierte oder fünfte Tisch.“
„Wer macht heute den Verkauf?“
Doris zählte die Namen der Mitschüler auf.
„Kommst du mit?“ schlug Sandra vor.
Doris schüttelte den Kopf. „Ich suche die Sektenleute. Habt ihr sie irgendwo gesehen?“
„Ja, in der Mittelpassage. Aber das ist schon eine Weile her. Was willst du denn von denen?“
„Ich muß sie etwas fragen“, erwiderte Doris ausweichend. Doch dann platzte sie heraus: „Ingrid sagt, sie habe Jutta letzten Samstag mit denen weggehen sehen!“
Inzwischen wußte natürlich die ganze Klasse, daß Doris’ Schwester verschwunden war. Doris’ Eltern hatten es nicht länger verheimlichen können. Sie wollten es auch nicht, denn es bot ihnen die Möglichkeit, einen größeren Personenkreis nach Jutta zu befragen.
„Jutta mit den Halleluja-Singern?“ Sandra schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ingrid behauptet es. Ich hab schon überall nach ihnen gesucht. Jutta soll mit einem Dünnen, der einen Chinesenbart trägt, weggegangen sein.“
„Das ist der Anführer. Mit dem habe ich mich letzten Samstag angelegt“, sagte Joschi.
„Habt ihr denn immer noch nichts... Aua!“ unterbrach sich Sandra, denn das Rad eines Kinderwagens fuhr über ihren Fuß.
„Müßt ihr unbedingt mitten im Weg stehenbleiben?“ schimpfte der Mann, der den Kinderwagen schob.
Die drei zogen sich an die Seitenwand eines Kiosks zurück. „Nein, wir haben nichts von Jutta gehört“, beantwortete Doris Sandras unvollendete Frage. „Wir haben nur festgestellt, daß sie ihr ganzes Bankguthaben abgehoben hat. Vor drei Tagen. Und zwar hier in der Stadt.“
„Sauerei!“ sagte Sandra. „Und sie hat sich nicht daheim gemeldet?“
Doris schüttelte den Kopf.
„Wir suchen mit. Am besten, wir trennen uns, denn im Mittelgang ist die Gruppe jetzt bestimmt nicht mehr. Da ist um die Mittagszeit kein Durchkommen. Doris, du gehst den Bürgersteig an den Geschäften entlang ab. Joschi und ich sehen uns bei den Buden auf der gegenüberliegenden Seite um“, schlug Sandra vor.
Ihr Vorschlag wurde akzeptiert, und Doris trennte sich von ihnen.
Sandra und Joschi fanden die Sektenmitglieder vor einem Antiquitätenstand, der von einer dichten Menschentraube belagert war. Der Stand war in einer langgestreckten Bretterbude untergebracht. Sie war überdacht und nur an der Vorderseite den Schaulustigen geöffnet. Auf dem Verkaufstisch befanden sich schöne alte Standuhren, Leuchter, Bilderrahmen, Vasen, Spiegel, Tafelsilber und hundert andere Sachen aus Urgroßväterzeiten. Der Stand fand einen ungeheuren Zustrom.
Und ausgerechnet dort hatten sich die Sektenanhänger postiert. Sie wirbelten ihre Tamburine, verteilten Gebetstexte und Werbetraktate und redeten beschwörend auf die Leute ein, die sich interessiert um die Antiquitäten drängten.
„Die machen denselben Wirbel wie letzten Samstag. Sie denken wohl, der Weihnachtsmarkt gehört ihnen“, schimpfte Joschi.
„Ist ja auch eine tolle Gelegenheit für sie, neue Mitglieder zu werben“, erwiderte Sandra.
„Wer sich von denen einfangen läßt, muß bescheuert sein“, sagte Joschi.
,Ja, du, ich kann mir auch wirklich nicht vorstellen, daß Jutta zu denen gegangen ist“, meinte Sandra.
„Fragen wir sie doch einfach, ob sie Jutta kennen“, schlug Joschi vor.
Doch dazu kam es zunächst nicht. Denn während Sandra und Joschi sich dem Antiquitätenstand näherten, entstand dort ein Tumult, der in eine Schlägerei auszuarten drohte.
Einige der Leute, die gern in Ruhe ihre Geschenke ausgewählt hätten, fühlten sich von den Sektenmitgliedern belästigt. Ein Mann forderte die Gruppe lautstark und heftig auf, ihn in Ruhe zu lassen und zu verschwinden. Andere Passanten mischten sich ein. Rufe wurden laut. „Macht, daß ihr fortkommt, ihr Spinner!“ und „Unverständlich, daß die Polizei diese Belästigungen nicht unterbindet!“ hörten Sandra und Joschi heraus.
Es kam zu Handgreiflichkeiten. Eine Frau stieß einen Vollbärtigen vor die Brust, um ihn abzuwehren. Daraufhin schlugen die Sektenmitglieder mit ihren Tamburinen auf die Leute ein. Ein paar Jugendliche eilten von den Nebenständen hinzu und beteiligten sich an der Rauferei. Der Verkaufstisch, der nur aus einer dünnen Sperrholzplatte bestand, die auf vier Holzpflöcken ruhte, geriet ins Wanken. Der
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