Feenfuchs und Feuerkuss
1
Faszination
Luisa trat fester in die Pedale
ihres Hollandrades. Der kalte Märzwind zerzauste ihre schwarzen Locken, fuhr in
ihre Jackenärmel und brachte sie zum Frösteln. Morgentau lag auf den Feldern,
doch sie hatte keinen Blick übrig für die malerische Landschaft, die eine
Seltenheit im Ruhrgebiet war. Wenn sie vor der Schule noch heimlich Ophelia
besuchen wollte, musste sie sich beeilen.
Solange sich ihre Schulnoten
nicht gebessert hätten, würde sie ihr Pferd offiziell nicht besuchen,
geschweige denn reiten dürfen. Ihre Mutter, eine resolute Anwältin, hatte wie
üblich nicht lange gefackelt und ihr Springpferd vor zwei Tagen vom
Valentinshof, ein Reiterhof der der Familie ihrer besten Freundin Molly
gehörte, abholen und zum Lichthang Gestüt bringen lassen. Dort würde es
versorgt und von einem der Bereiter trainiert, bis Luisa nicht mehr
versetzungsgefährdet wäre. Dass ihre Stute sehr sensibel war, interessierte ihre
Mutter dabei wenig. Luisa hatte vergeblich versucht ihr klar zu machen, dass
Ophelia sehr anspruchsvoll im Umgang war und die Umstellung nur schwer
verkraften würde.
„Wenn sie wieder krank wird,
Mama, dann bist du es Schuld“, zischte Luisa und wich in letzter Sekunde einem
Schlagloch aus.
Der schmale Feldweg war so
holprig, dass er ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Ihr Hollandrad war
schließlich kein Mountainbike, sodass sie ihre hellbraunen Augen konzentriert
auf den Weg gerichtet hielt, bis sie endlich die ersten Weiden des Gestüts
erreichte.
Sie fuhr langsam auf das
Privatgrundstück und betete, dass sie nicht erwischt wurde. Ihre Mutter, Eva
Frost, würde kochen vor Wut. Ihr Rad versteckte sie hinter einer Hecke am
Hängerparkplatz und schlich unbemerkt durch das schmiedeeiserne Tor. Um diese
unchristliche Zeit lag der Hof wie ausgestorben vor ihr. Da sie vor kurzem das
Neujahrsturnier des Gestüts besucht hatte, wusste sie ungefähr, wo die
Berittpferde untergebracht waren. Sie hastete die Stallgasse entlang und hielt
Ausschau nach ihrer Fuchsstute. Pferdeköpfe streckten sich ihr interessiert
entgegen, doch Ophelias war nicht dabei. Am Ende der Stallgasse befand sich noch
eine Box im Halbdunkeln.
„Ophelia!“, wisperte Luisa
aufgeregt und trat vor die Box. Endlich hatte sie ihr Pferd entdeckt.
Die hübsche Stute stand apathisch
in der Ecke und zuckte erschrocken zusammen, als Luisa die Boxentür öffnete. Ophelia
war gestern nach dem Reiten nicht geputzt worden, ihre Sattellage, der Hals und
der Kopf waren von getrocknetem Schweiß ganz stumpf.
„Was haben die mit dir gemacht,
mein Mädchen?“, flüsterte Luisa und betrat die Box.
Zu ihrem Entsetzen wich Ophelia
vor ihr zurück. Mit gesenktem Blick murmelte Luisa: „Ich bin’s doch, Ophelia.
Keine Angst. Ich bin’s. Ganz ruhig, mein Feenfuchs.“
Tränen drohten ihr in die Augen
zu steigen, aber dann ließ sich ihre Stute von ihr berühren.
„Oh, Ophelia. Es tut mir so leid.“
Luisa strich über das verklebte Fell. „Ich hole dich hier raus. So schnell ich
kann…“
„Kannst du mir vielleicht verraten,
was du hier zu suchen hast?“
Luisa drehte sich erschrocken zu
der zornigen Stimme um. Vor der offenen Boxentür stand ein alter Mann in
Arbeitskleidung mit einer Ration Heu in den Armen.
„Können Sie mir vielleicht verraten, warum mein Pferd so schreckhaft ist?
Und warum wurde es völlig verschwitzt in die Box gestellt?“, entgegnete Luisa
außer sich.
Der alte Mann kniff die Augen zu
Schlitzen zusammen und trotz seines Alters wirkte er plötzlich sehr bedrohlich.
Luisa krallte sich in Ophelias Mähne.
„Raus aus der Box, junges
Fräulein. Deine Mutter hat den Chef ausdrücklich gebeten, dich zu verpfeifen,
wenn du hier auftauchst. Also, verschwinde, dann hab ich dich vielleicht nicht
gesehen.“
Luisa spürte, dass ihr Kinn
zitterte.
Mist , fluchte sie in Gedanken. I ch muss stark bleiben! Für Ophelia.
„Wissen Sie, bestellen Sie meiner
Mutter doch einfach einen schönen Gruß, wenn Sie sie das nächste Mal sehen. Ich
lasse mich nicht so schnell verscheuchen.“
Der Alte schüttelte den Kopf. „Keine
Diskussion. Jetzt ist Futterzeit und da hat niemand außer mir was im Stall
verloren, auch keine freche Göre. Also, ab jetzt!“
Luisa straffte ihre Schultern. „Ich
will trotzdem wissen, warum Ophelia nicht geputzt wurde. Wenn man sie schon
schweißnass reitet, sollte sie wenigstens geputzt werden.“
Der Mann warf das Heu unter
Ophelias Tränke. Zu Luisas Beruhigung fing ihre
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