Sayuri
hatte sich auf eine Kiste neben ihr Bett gesetzt und wies auf ihren blutbefleckten Mantel. Letzte Nacht hatte sie ihm zwar noch von ihrem Einstieg in die Zinade erzählt, nicht aber von dem Soldaten, dem sie begegnet war.
Marje sprang aus dem Bett. In den kleinen Schlafraum passten kaum mehr als ihre Betten, ein kleiner Tisch, zwei Hocker und ein niedriges Regal an der Wand. Sie schob die Vorhänge zur Seite, um in den weitaus größeren Bereich dahinter zu treten. Dieser Raum war doppelt so groß wie die Schlafecke und zur Stadt hin gänzlich offen. Der Wind hatte eines Tages das Dach dieses Hauses auf der Ostseite mit sich gerissen und Thars Bemühungen, es wieder aufzubauen, waren allesamt gescheitert. Marje wandte ihr Gesicht Tshanil zu und die Sonne begrüßte sie mit ihren warmen Strahlen. Einen kurzen Augenblick blieb sie stehen und genoss nichts weiter als die Wärme auf ihrer Haut.
Thar war ihr gefolgt. »Lino war übrigens heute Morgen schon hier oben.« Er grinste sie an. »Sie sagt, sie hätten gar nicht genug Gefäße herbeischleppen können, so viel Wasser haben sie abgefüllt.«
Marje nickte, während ihr Blick über die neue Stadt hinwegglitt. Bis zu den Stadttoren sahen viele Häuser aus wie dieses, vom Wind und vom Sand der Ödnis sichtbar gezeichnet. Viele der Ruinen hatten längere Zeit leer gestanden und die Taller hatten weder Material noch Geld, um ihre Wohnungen instand zu halten. In der alten Stadt waren die Häuser gut gepflegt, hatten einen schützenden Anstrich und wurden sofort ausgebessert, wenn der Wind einen Ziegel vom Dach riss.
Wie sehr sich doch die neue Stadt davon unterschied! Aber wenigstens mussten die Bewohner hier nicht ihren Einfluss oder ihre Macht mittels ihrer Häuser demonstrieren. Und die meisten halfen sich gegenseitig, wo sie konnten. Sie hatten keine andere Wahl als zusammenzuhalten und das war auch gut so.
»Marje.« Thar neben ihr schüttelte den Kopf. »Träumst du immer noch?«
»Tust du mir einen Gefallen?« Marje wandte sich zu ihrem Freund um. »Könntest du – fragst du mich bitte nicht mehr nach gestern Abend?«
Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch dann nickte er stumm.
Sie streckte ihre Schultern. »Bin gespannt, wie viel Lino sich von dem Wasser sichern konnte«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Es wurde wirklich Zeit, das Geschehene abzuschütteln. »Ich geh gleich mal zu ihr runter.«
»Aber vergiss darüber nicht, dass du heute arbeiten musst.« Thars blaue Augen funkelten unter dem struppigen braunen Haar. »Und grüß Shoan von mir.« Dann drehte er sich um, schlüpfte durch die Vorhänge und ließ sich gähnend auf sein Lager fallen. »Und richte Lino aus, dass ich nicht zum Mittagessen komme, vielleicht am Nachmittag zum Tee, irgendwann …« Er grinste müde. »Das war doch eine ziemlich anstrengende Nacht! Die ganze Zeit wach zu bleiben und auf dich zu warten …«
Marje verdrehte die Augen. »Na, so anstrengend war es ja wohl auch wieder nicht. Schließlich hast du gemütlich in deinem Kahn sitzen können, während ich die ganze Arbeit erledigt habe.«
»Nur weil du mich nicht mitnehmen wolltest«, grummelte Thar.
»Milans Entscheidung«, wehrte Marje den Seitenhieb trocken ab. »Was glaubst du, was los gewesen wäre, wenn wir zu siebt oder acht in der Zinade gewesen wären? Am Ende hätten alle mitgewollt!«
»Wenn wir zusammen gegangen wären, hättest du nicht alleine fliehen müssen«, konterte er.
Marje rieb sich unruhig über ihr Handgelenk. »Schon vergessen? Kein Kommentar!« Sie drehte sich um, schnappte sich ihre Tasche und lief zu dem Loch im Boden, durch das das Ende einer Leiter ragte. Gekonnt kletterte sie die Sprossen ins untere Stockwerk.
Shio folgte ihr in sanft schimmerndem Licht. Während ihres Gespräches mit Thar hatte er sich in die Sonne gelegt, um Kräfte zu tanken, jetzt setzte er sich auf ihre Schulter und summte ihr leise ins Ohr.
Der Duft frisch gebackenen Brotes stieg ihr in die Nase und ihre Laune hob sich merklich. Mit zwei großen Sprüngen nahm sie die letzten Treppenstufen und blieb vor der angelehnten Küchentür stehen, um höflich anzuklopfen.
Mit einem Ruck riss Lino die Tür auf und schloss sie in ihre kräftigen Arme. »Wusste ich doch, dass du es bist!« Die große, schlanke Frau strahlte.
Marje erwiderte die Umarmung und wünschte der jungen Mutter einen guten Morgen.
»Gut?«, echote Lino belustigt. »Fantastisch!« Verschwörerisch beugte sie sich zu Marje
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