Sayuri
hinunter. »Ich habe im Keller vier Bottiche bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Was glaubst du wohl, wie meine Jungs gucken werden, wenn sie sich endlich wieder mit Wasser waschen können!«
Marje lachte. Sie hatte Lino einmal geholfen, ihre zwei jüngsten Kinder mit Sand zu waschen. Das Waschen mit Sand war in den Vierteln bereits zum Alltag geworden, seit das Wasser in Messbechern ausgeteilt wurde. Jeder, der es sich leisten konnte, sich wenigstens einmal im Monat mit Wasser zu waschen, konnte sich glücklich schätzen.
»Das Brot ist fast fertig. Wenn die Jungs aufgestanden sind, können wir frühstücken. Magst du noch zum Essen bleiben?«, erkundigte sich Lino. »Du musst einfach!« Bittend griff sie nach Marjes Arm. »Wir haben dir so viel zu verdanken.«
Marje nickte lächelnd und hoffte, dass ihre Wangen nicht so dunkelrot wurden, wie sie sich anfühlten. »Schon gut!«, wehrte sie ab. »Mach nicht so viel Aufhebens darum, in Ordnung?«
Lino lachte. »Das ganze Viertel ist dir zu Dank verpflichtet«, beharrte sie. Sie zog einen Stuhl für Marje vom Tisch zurück und machte sich am Herd zu schaffen.
Marje zögerte einen Moment, doch dann sprach sie aus, woran sie schon den ganzen Morgen immer wieder gedacht hatte. »Lino, hast du zufällig gehört, was mit Milan ist?«, fragte sie.
Die junge Frau drehte sich zu ihr um und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Nein«, sagte sie. »Aber ist das so ungewöhnlich?«
Marje schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie hastig. »Alles in Ordnung, du hast recht.«
Und es stimmte. Milan konnte auf sich selbst aufpassen. Er würde sich bei ihr melden, wenn er das für richtig hielt. Eigentlich sollte sie sich längst daran gewöhnt haben.
Lino kam mit einem Korb Brot und einer Kanne Berenstee zum Tisch. Plötzlich merkte Marje, was für einen Bärenhunger sie hatte.
Lino setzte sich zu ihr.
»Ich soll dir übrigens von Thar ausrichten, dass er nicht zum Mittagessen kommt«, sagte Marje und griff nach einer Scheibe Brot. »Er meinte, es wird ein wenig später, vielleicht Teezeit.«
»Dieser Langschläfer! Vermutlich wird er sogar Lauryns Frühling verpassen!«
Marje musste bei dem Gedanken grinsen, schüttelte aber den Kopf. »Das ganz bestimmt nicht!« In der Nacht zum morgigen Tag feierte die ganze Stadt diesen hohen Festtag.
Thar war etwas älter als Marje. Es gab viele wie ihn, ohne eine Familie oder einen Beruf oder ein richtiges Zuhause. Sie lebten in den Tag hinein und trieben sich auf Märkten herum, wo sie mal als Träger arbeiteten oder für ein paar Münzen an einem Stand aushalfen. Boten sich derartige Gelegenheiten nicht, fanden sie andere Wege, Geld zu verdienen. Marje hatte viele Freunde, die sich mit zweifelhaften Arbeiten über Wasser hielten. Von einigen wollte sie lieber nicht genau wissen, was sie taten, mit anderen arbeitete sie sogar manchmal zusammen. Was sie alle verband, war das Gefühl, in einem Boot zu sitzen. »Wir gegen den Rest der Welt«, hatte Thar ihre Situation einmal in Worte gefasst und ganz unrecht hatte er damit nicht. Und wenn schon nicht gegen den Rest der Welt – dann zumindest gegen die reichen Händler unter den Liganern und den Kaiser.
»Ich hab noch einen Korb für Shoan gepackt. Gehst du bei ihm vorbei?« Lino nahm einen Schluck Tee.
Marje nickte. Sie gähnte und hob eine Hand vor den Mund.
In diesem Moment wurde die Küchentür aufgestoßen und Linos Mann kam mit seinen drei Söhnen herein. Nun wurde es wirklich eng in der Küche. Marje rutschte mit ihrem Stuhl bis ganz an die Wand und nahm einen der Zwillinge auf den Schoß. »Maie!«, rief der Kleine und klatschte erfreut mit seinen kleinen Händchen.
»Morgen, Marje. Gratuliere zu der erfolgreichen Nacht«, begrüßte Linos Mann sie lächelnd. »Wir hatten eine Menge zu tun hier.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, nahm den anderen Zwilling von seiner Schulter und setzte ihn sich auf den Schoß. Gerade, als Lino einen weiteren Brotkorb auf den Tisch stellen wollte, erklangen auf der Straße die Glocken, die das Öffnen der Tore verkündeten.
Marje sprang auf. »Mist, so spät schon! Ich muss los!«
Lino drückte ihr den Korb für Shoan in die Hände. »So viel Zeit hast du doch sicher?«, fragte sie.
Marje nickte und griff sich selbst noch zwei Scheiben Brot vom Frühstückstisch. »Immer«, nickte sie kauend.
Sie hob die Hand zum Abschied und zog die Tür mit dem Ellenbogen hinter sich zu. »Bis später«, rief sie und stand
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