Sayuri
Suche nach neuem spannendem Lesestoff über die Buchrücken geglitten war, richtete sich auf Shoan.
»Nein.« Er lehnte den Kopf gegen die Wand in seinem Rücken. »Aber ich hab den Lärm draußen mitbekommen. Es scheint ganz schön was los gewesen zu sein. Fragt sich nur, was ihr das nächste Mal macht.« Sein Blick unter halb geschlossenen Lidern wurde lauernd.
Marje zuckte mit den Schultern. Sie kannte seine misstrauische Art und wusste, was er von ihrem Ausflug hielt. Er war der Einzige gewesen, der sich bis zuletzt dagegen ausgesprochen hatte. Lieber wollte er sterben, als ein Verbrechen zu begehen, waren seine Worte gewesen. Auch wenn seine Haltung vermutlich bewundernswert war, konnte Marje ihn nicht verstehen. Shoan war ein alter Mann, ein Narr, verliebt in seine Bücher und geblendet von einer Illusion der Gerechtigkeit und des Friedens. Die Welt, von der er träumte, würde es nie geben. Die Realität sah anders aus und wurde vom Recht des Stärkeren bestimmt, das hatte Marje schon früh genug lernen müssen.
»Wir werden uns etwas einfallen lassen«, erwiderte sie. »Irgendwann werdet ihr kämpfen, ihr werdet rauben und morden«, meinte Shoan leise.
Marje schluckte schwer. Ohne es zu wissen, hatte Shoan ihren wunden Punkt getroffen. Heute noch mehr als sonst.
Ihr Gesicht wurde ausdruckslos. »Wenn sie uns zwingen, müssen wir um unser Leben kämpfen!«, entgegnete sie entschlossen. Mit schnellen Schritten ging sie aus dem Zimmer. »Ich soll dich übrigens von Thar schön grüßen«, sagte sie noch, bevor sie die Bibliothek verließ und die Treppe zur Straße hinaufeilte, um der beklemmenden Dunkelheit zu entfliehen.
Mit eiligen Schritten lief sie die Straße hinab zum Tor, das in die alte Stadt führte. In ihr tobten die Gefühle. Lass ihn nicht tot sein, Tshanil, bat sie im Stillen und sah zur goldenen Sonne auf.
3. Kapitel
E s dauerte nicht lange, bis Marje das Tor erreicht hatte, das vom Westviertel der Taller in die alte Stadt führte. Sie zahlte den Wegezoll und blieb einen Augenblick im Schatten des steinernen Bogens stehen. Hier am Wasser war es kühler. Der Fluss glitzerte und schimmerte im Morgenlicht. Marje schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief den Geruch des Shanu ein.
»Marje! Du bist spät dran. An die Arbeit!«
Sie zog eine Grimasse, als sie die Stimme des Bootsbauers hörte, für den sie an vielen Tagen auf dem Fluss unterwegs war.
Geschickt sprang sie in das letzte Boot, das noch vor Anker lag, und löste die Leine. Sie stieß die Stake in das schlammige Flussbett, um ihr Gefährt in die Mitte des Flusses zu manövrieren. Bis zum Abend würde sie Menschen durch das Viertel transportieren. Allein um den Wegezoll, den sie jeden Tag entrichtete, um zur Arbeit zu kommen, wieder zu verdienen, musste sie mindestens zwanzig Passagiere am Tag befördern. Obwohl das Staken anstrengend und ihr Arbeitgeber ein wahrer Sklaventreiber war, mochte sie die Arbeit. Dabei konnte sie die Ruinen der neuen Stadt für ein paar Stunden hinter sich lassen und die vielen Menschen, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte, lenkten sie von ihren Sorgen und Nöten ab.
Entschlossen stieß sie die Stake ins Flussbett und manövrierte das Boot über eine Kreuzung hinweg. Sie wählte den kürzesten Weg zum nächsten Stadttor, wobei sie die Hauptadern des Flusses mied, in denen zu dieser Tageszeit kein Vorankommen war. Inzwischen kannte sie alle Wasserwege in der alten Stadt so gut wie ihr eigenes Viertel und an den Stadttoren gab es die größten Chancen auf Passagiere. Die Liganer, die in anderen Vierteln Geschäfte machen wollten, riefen sich ein Boot, sobald sie das Viertel betraten, und ließen sich, wenn man Glück hatte, eine ganze Weile durch die Gegend fahren. Der Fluss durchzog die alte Stadt mit vielen Ästen und Verzweigungen, manche waren zu schmal, um sie überhaupt mit einem Boot zu passieren. Überall schwangen sich Brücken über den Strom, in den reichen Vierteln um den Palast waren sie aus Stein und prächtig verziert, in den Vierteln der Handwerker und der kleineren Händler aus Holz. Die Uferwege dagegen waren nicht so breit ausgebaut – sie hatten gerade mal die Breite, die ein Grion-Fuhrwerk benötigte.
Marje erreichte das nächste Tor. Zwei spitze Türme mit Wachposten davor markierten den Übergang von einem Viertel ins andere. Sie manövrierte gerade ihr Boot in eine der Warteflächen, um nach Kunden Ausschau zu halten, da fiel ihr Blick auf ein blasses Mädchen,
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