Sayuri
vor Schmerz geworden sein wie Aulis, Sillas Schwester und Kiyoshis Tante.
Zaghaft legte sie ihren Arm um Kiyoshi und fast wäre sie zusammengezuckt, so kalt und starr fühlte er sich an. Seine Augen hatten alle Farbe verloren und jeder Ausdruck war aus seinen Zügen verschwunden.
Kiyoshis Gesicht war vollkommen leer.
Marje konnte sehen, dass etwas in ihm endgültig zerbrochen war. Als hätte er realisiert, dass sein Leben hier im Palast nun für immer zu Ende war. Vor der hohen Tür, die aus dunklem Holz gefertigt war, wirkte er klein und verwundbar.
Miro beugte sich zu ihm. »Du musst mir verzeihen, Kiyoshi«, sagte er flehentlich. »Und du musst verstehen, warum ich all das getan habe.«
»Nein.« Plötzlich kam Leben in Kiyoshi. »Zu verstehen gibt es da nichts. So lange ich atme, werde ich es nicht begreifen. Wie viele Menschen du auf dem Gewissen hast, die unschuldig waren! Um deine Lügen, um deine Taten ungeschehen zu machen, hast du sie alle geopfert. Wie kannst du mit dieser Schuld nur leben?«
Er betrachtete den Dolch, den er noch immer in seiner Hand hielt, nachdenklich.
Für einen Moment herrschte atemlose Stille.
»Tu das nicht«, flüsterte Marje.
Kiyoshi ließ den Dolch fallen. Klirrend kam er auf dem Steinfußboden auf. »Du bist es nicht wert«, sagte er und alle Verachtung, zu der er fähig war, lag in seiner Stimme. »Nicht einmal diese Mühe bist du wert!«
»Kiyoshi …« Miro trat einen Schritt auf ihn zu, ein Flehen in seinen Augen. »Lass uns …«
Doch weiter kam er nicht. Von den Toren her ertönte ein Krachen, dann schwang die Tür auf und eine dunkle Gestalt stürzte in den Flur. Sie trug die Uniform eines Hauptmanns.
Marje zuckte zurück, als sie aus dem Augenwinkel Metall aufblitzen sah. Sie sah das Schwert in der Hand des Soldaten, sah, wie er es hob und direkt auf Kiyoshi zulief.
Jemand brüllte etwas – Marje meinte den Namen Rajar zu hören, ein scharfer Befehl gellte durch den Flur, er musste von Miro kommen, doch dann wurde alles um sie herum still, als befände sie sich unter Wasser.
Es geschah im Bruchteil von Momenten und trotzdem hatte sie das Gefühl, als würde jemand die Zeit anhalten. Sie konnte sich selbst sehen, wie sie sich vor Kiyoshi warf, wie das Schwert auf sie zuschnellte, wie sich Entsetzen auf Kiyoshis Zügen ausbreitete, Entsetzen darüber, dass nicht er getroffen war, sondern sie.
Sie fühlte nichts, keinen Schmerz, der sich in ihr ausbreitete, keine Qual. Und doch hatte ihre Hand ganz automatisch nach der Wunde gegriffen. Zwischen ihren Fingern quoll Blut hervor und tränkte den Stoff ihrer Kleidung. Dann sank sie in sich zusammen und spürte, wie sie in Kiyoshis Arme fiel, die sie auffingen.
Sein Gesicht war dem ihren ganz nah.
Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie konnte ihr Herz laut pochen hören. Ihre Augen versuchten, sich an Kiyoshis Blick festzuhalten. Sie konnte die Tränen sehen, die ihm in den Augen standen, sich von seinen Wimpern lösten und lautlos über die Wangen rannen.
Seine Hand umschloss die ihre. Sie war warm, so warm. Seine Finger strichen über ihr Gesicht. Er sagte etwas. Sie konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten, aber sie verstand die Worte nicht. Lächle, bat sie leise.
Kiyoshi wischte sich mit einer Hand über die Augen. Sein Mund formte ein einziges Wort. Sie konnte es sehen, wie seine Lippen ihren Namen formten, glaubte, seine Stimme zu hören, auch wenn das Rauschen in ihren Ohren alles übertönte.
Das Lächeln tat weh. Ihr Körper fühlte sich fremd an. Ihre Hand in Kiyoshis musste eiskalt sein. Müde schloss sie die Augen. Es war zu anstrengend, sie offen zu halten. Das Atmen fiel ihr schwer. Ihre Lungen fühlten sich an, als würden sie platzen, während ein Gewicht auf ihrer Brust lag, das alle Luft aus ihr herauspresste.
Als würde eine schwere Last von ihr genommen, atmete Marje schließlich aus und ließ einfach los.
8. Kapitel
U nsicher stand Sayuri an dem großen Bett. Der alte Mann, der von den Decken beinahe erdrückt zu werden schien, wirkte völlig entkräftet. Seine Augen öffneten sich flatternd, irrten unruhig durch den Raum. Er schien nicht einmal mehr den Kopf drehen zu können. Sayuri konnte ihn sich kaum als mächtigen Kaiser vorstellen. Er sah so alt aus, so uralt.
»Bist du gekommen, um mich zu erlösen?«, fragte er mit heiserer Stimme, als seine Augen sie gefunden hatten.
Erschrocken wich sie zurück. Seine blauen Augen hatten ihre Klarheit nicht verloren und waren mit
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