Sayuri
Moment. »Und ich musste auch an dich denken, Kiyoshi.«
Marje spürte, wie Kiyoshis Hand sich in ihrer zur Faust ballte. Ihr Herz begann zu rasen, als wüsste sie, welche Worte Miro als Nächstes aussprechen würde.
»Nein«, fauchte er. »Ein letztes Mal – nein! Keine Lügen. Keine Geschichten mehr. Was ist die Wahrheit?« Plötzlich lag ein Dolch in seiner Hand.
Marje griff nach Kiyoshis zweiter Hand, versuchte, ihn mit sich zu ziehen. »Wir müssen uns um Sayuri kümmern«, bat sie.
»Sayuri?« Miro fuhr zu ihr herum.
»Ja, Sayuri. Sie ist mit uns zurückgekommen«, antwortete Kiyoshi. »Sie ist beim Kaiser … bei ihrem Vater.«
Miros Augen weiteten sich, seine Hände ballten sich hilflos zu Fäusten. »Was hast du getan?« Die Frage war nur ein fassungsloses Flüstern. »Was hast du nur getan?« Seine Blässe wurde noch gespenstischer. »Du hast ihn umgebracht! Du … du …«
Marje spürte, wie Kiyoshis Körper sich anspannte.
»Du bist das Andenken deiner Mutter nicht wert«, flüsterte Miro. »So viel habe ich auf mich genommen – so viel …«
Er brach ab und schlug die Hände vors Gesicht. Plötzlich sah er nur noch aus wie ein Schatten seiner selbst.
Kiyoshi betrachtete den Mann, der vor ihm stand, ohne etwas zu sagen. Sein Schluchzen klang jämmerlich durch die leeren Flure.
»Das Andenken meiner Mutter?«, wiederholte er. »Aber …« Plötzlich schien er zu begreifen. »Du hast nicht nur aus Liebe zum Kaiser gehandelt! Silla – sie war gar nicht meine Tante, oder?« Seine Stimme war nun auch zu einem tonlosen Flüstern verebbt, während Miro immer mehr in sich zusammensackte und schließlich nickte.
»Nein, Kiyoshi. Silla war auch deine Mutter.«
»Aber ich bin nicht der Sohn des Kaisers!«
Marje versuchte, ihr eigenes Zittern zu unterdrücken. Fest umklammerte sie Kiyoshis Hand, wollte ihm Kraft geben.
»Nein«, flüsterte Miro wieder. »Du bist mein Sohn. Mein Bruder hat es nie erfahren und so soll es auch bleiben.« Er stöhnte auf. »Auch ich habe Silla geliebt. Mehr als mein Leben habe ich sie geliebt. Und sie hat mir das Wertvollste geschenkt, was ich je besitzen sollte – dich. Das war fast zwei Jahre, bevor sie das Kind bekam, das sie töten sollte. Gleich nach deiner Geburt hat dich ihre Schwester Aulis zu sich genommen und als ihren Sohn ausgegeben. Das schien uns die beste Lösung zu sein. So konnte Silla immer in deiner Nähe sein, wenn sie wollte. Nach ihrem Tod … nach ihrem Tod ist es dann dabei geblieben. Jeder, auch du, hat geglaubt, Aulis wäre deine Mutter.«
Marje schloss für einen Moment die Augen. Was sie da hörte, übertraf alles, was vorstellbar war. Sie dachte daran, wie Kiyoshi davon gesprochen hatte, dass er das Gefühl hatte, ihm fehle ein Stück seines Lebens. Doch es war nicht nur ein Stück. Alles, aber auch alles, woran er geglaubt hatte, war tatsächlich eine einzige Lüge gewesen!
Sie erinnerte sich an den Morgen mit der Frau, die sie bislang für Kiyoshis Mutter gehalten hatte, genau wie er selbst. Damals, in ihrem kleinen Häuschen, hatte sie von einer Silla gesprochen und davon, dass sie das Geheimnis bewahren musste. Doch sowohl sie als auch Kiyoshi hatten es abgetan als die Worte einer verwirrten Frau. Dabei hatte Aulis offenbar einen hellen Moment gehabt. Sie hatte ganz eindeutig versucht, Kiyoshi zu warnen und die verschollene Tochter ihrer Schwester in Sicherheit zu bringen.
Marje spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, als sie fassungslos Miro musterte. Wie konnte ein Mensch nur auf solch unglaublichen Lügen sein Leben aufbauen? Wie konnte er so viel Schuld auf sich laden? Miro hatte seinen Bruder angelogen, dessen Frau er heimlich geliebt hatte. Aber nicht nur das: Er hatte die Trauer seines Bruders ausgenutzt und die Stadt nach seinem Gutdünken regiert – angeblich in seinem Namen. Er hatte seinen eigenen Sohn zeit seines Lebens angelogen und ihn doch zu seinem Erben ausgerufen. Er hatte eiskalt über das Schicksal des Mädchens entschieden, das die rechtmäßige Erbin des Kaisers war! Und er hatte den Tod von so vielen Menschen in Kauf genommen, um all diese Lügen für immer unter Verschluss zu halten.
Konnte man jemand wirklich so sehr lieben, dass man in dessen Namen so viel Unheil anrichtete? Ja – war das überhaupt noch Liebe?
Marje schüttelte unwillkürlich den Kopf. Nein. Mit Liebe hatte das nichts mehr zu tun. Was Miro nach Sillas Tod getan hatte, das war Wahnsinn gewesen. Auf seine Art musste er genauso wahnsinnig
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