Scary City, Band 1: Das Buch der Schattenflüche, Scary City 1 (German Edition)
mich zusammenzucken ließ. Ich blickte nach oben und entdeckte einen großen Raben, der über mir auf einem metallenen Deckenträger der Glaskonstruktion hockte. Mit schräg gelegtem Kopf starrte er aus einem schwarzen Auge auf mich herab. Ich schauderte leicht. Raben gelten bei Hexen als schlechtes Omen. Und obwohl ich eigentlich nicht abergläubisch bin, schien es mir doch ein merkwürdiger Zufall, dass dieser Vogel ausgerechnet heute meinen Weg kreuzte.
Seit dem Tod von Grandma hatte es keine Anschläge mehr auf mein Leben gegeben, dennoch existierten immer noch genug Fanatiker, die mich lieber tot als lebendig sehen würden. Zehn Jahre lang hatte mich alle Welt gefürchtet und gehasst. Solch starke Gefühle legte niemand so leicht ab.
Nach einem kurzen Blick über die Gleise wandte ich mich wieder der Treppe zu, die hinunter in den Bahnhof führte. Mittlerweile war außer mir keine einzige lebende Seele mehr auf dem Bahnsteig. Ich sah auf die Uhr. Kurz vor halb sechs. Jetzt war es amtlich. Etwas stimmte nicht.
2.
»Mum? Dad? Seid ihr da?« Ich stand in der geöffneten Tür und lauschte. Es war still im Haus. Viel zu still. Wie auf einem Friedhof. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Ich hatte den Bus genommen. Eine Stunde Fahrt. Stickige Luft. Und alle Sitzplätze belegt. Ich hasse öffentliche Verkehrsmittel, aber ein Taxi konnte ich mir nicht leisten. Wir wohnten in Vanish, einem Vorort von London. Sauber und konservativ. Keine Vampire, Hexen oder Werwölfe in der Nachbarschaft. Also gingen auch wir problemlos als Menschen durch. Wieder so eine Lüge.
»Mum? Dad?«, versuchte ich es noch einmal.
Schweigen.
Wenigstens war die Tür nicht aufgebrochen. Die Schutzzauber meiner Mum funktionierten also noch. Mein Blick wanderte durch den Flur. Keine umgeworfenen Stühle oder verschobenen Teppiche. Alles sah wie immer aus. Die Bilder hingen gerade. Die Läufer lagen mittig. Wäre es anders, hätte ich mich auf der Stelle umgedreht und wäre geflohen. Einen Stuhl konnte man nach einem Kampf leicht wieder aufstellen. Aber auf die kleinen Details, auf die es ankam, achteten die meisten Kopfgeldjäger der Nox nicht. Das hatte uns in früheren Tagen öfter das Leben gerettet.
Ein Kribbeln im Nacken ließ mich herumfahren. Auf der andern Straßenseite stand ein Typ in Jeans und Lederjacke. Er lehnte lässig an einer Laterne, als wartete er auf jemanden. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. War er meinetwegen hier? Ich warf die Haustür zu und beobachtete ihn durch den Spion. Doch er blickte wieder die Straße hinunter und schien sich längst nicht mehr für mich oder unser Haus zu interessieren.
Na schön, ich hatte wohl überreagiert. Ich warf meinen Rucksack unter die Garderobe. Was nützte es, jetzt noch leise zu sein, wo ich schon zweimal nach meinen Eltern gerufen hatte? Als Erstes inspizierte ich das Haus. Ich sah in Küche, Esszimmer und Wohnzimmer nach. Nichts. Also stieg ich hinauf in den ersten Stock, wo ich mich im Schlafzimmer meiner Eltern und in meinem eigenen Zimmer umschaute. Wieder Fehlanzeige. Nur in Mums Bibliothek hatte ich mich noch nicht umgeguckt. Sie mochte es nicht, wenn Dad oder ich sie ohne ihr Wissen betraten, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.
Die Tür war wie immer verschlossen. Rasch holte ich den Schlüssel, den Mum in der obersten Schublade ihres Nachttischchens aufbewahrte. Das Schloss knackte protestierend, als ich den Schlüssel umdrehte, sodass ich zusammenzuckte. Das ärgerte mich. Ich benahm mich wie ein kleines Kind.
Ich gab der Tür einen Stoß. In der Bibliothek sah alles wie immer aus. Ich ließ den Blick umherschweifen. Keine aufgebrochenen Fenster. Perfekte Ordnung. So, wie Mum es liebte. Nun, für meinen Geschmack zu perfekt. Ich biss mir auf die Unterlippe. Vielleicht sogar für Mum.
Vor einem der Bücherregale stand eine Vitrine. Eins von diesen Glasdingern, die man aus dem Museum kennt. Mum, rührselig wie sie war, bewahrte darin Erinnerungen an unser früheres Leben auf: Schutzamulette aus dunklem Eschenholz, silbrige Fluchbrecher, ein grüngrauer Finger, der gelegentlich zuckte (und den ich schon immer ziemlich abstoßend fand), und eine Phiole, gefüllt mit goldenem Nebel. Jedes dieser Stücke hatte uns in der einen oder anderen brenzligen Situation vor den Kopfgeldjägern gerettet. Mum behandelte den ganzen Kram, als wären es unvorstellbar kostbare Schätze. Angucken ja,
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