Schafkopf
nicht von ihm lassen, es ist ja sein Vater und damit der Größte überhaupt. Deshalb muss es für den Selbstmord Schuldige geben. Und die gibt es ja auch: Die Kartelrunde. Das wird zumindest so kolportiert. Der Schafkopf.
Und der Schafskopf.
Und egal ob das nun stimmt oder nicht, für den Kleinen muss es so stimmen und zur Wirklichkeit gerinnen. Sonst verliert er sich selbst. Zumindest läuft er Gefahr dazu. Das kann schon ein starker Motor sein. Zum Beispiel für das Einser-Abitur: Er will ja so groß wie sein Vater sein – wie das Bild, das er sich von ihm malt, um Überleben zu können. Oder für das Stipendium. Für Massachusetts, die ganze Karriere.«
Hartung war ganz in sich. Er dachte sich in die Gefühlslage eines anderen ein.
»Eigentlich ist das ein sich selbst tragendes Konstrukt. Man wird immer besser, immer größer, feiert Erfolge, heißt: Man kommt seinem Vater immer näher. Dem Bild, das man sich von ihm gemacht hat. Kämpft zunächst ja nur erfolgreich gegen den Schmerz oder das Trauma an. Und das kriegt dann aber eine Eigendynamik. Das Denken affiziert die Welt, um es mal so zu sagen. Auf so einem Weg gibt es viele Weichen, die eine Tat möglich machen. Will man den Vater rächen, überzeugt von der eigenen Erfolgserfahrung? Oder will man sich selbst rächen? Das wäre beides innerhalb dieses Systems gedacht. Es geht aber auch anders: außerhalb des Systems. Stellen Sie sich vor, diese Person kommt zu sich selbst. Durch irgendwas. Therapie, Schock, Gedanken. Und reflektiert das alles, ihre ganze Situation. Was könnte die Folge davon sein? Ein vermurkstes Leben. In dem alles egal ist. Oder an dem jemand Schuld ist und das man rächen muss. Oder will.
Aber jetzt wird es erst richtig abstrus: Die Rache, wie auch immer diese begründet ist, trifft ja nicht die vermeintlich Schuldigen, sondern deren Söhne. Oder warten Sie – das könnte perfide sein: Die Rache trifft natürlich die Schuldigen! Sie trifft die Väter! Sie haben ja den Schmerz beim Verlust ihres Sohnes. Der Sohn ist ja tot, dem tut's nicht weh. Der Vater aber muss mit dem Schmerz leben! Mein Gott, ich kriege eine Gänsehaut! Das setzt dann schon viel Intelligenz voraus. Auch die ganze Planung! Aber wissen Sie, Kommissar Behütuns, das geht mir jetzt zu weit, das ist doch alles sehr konstruiert.«
Hartung setzte sich auf, drückte das Kreuz durch, atmete tief ein. »Das hat alles eine gewisse Logik. Aber die würde ich gerne erst hinterher betrachten, nicht so im Vorhinein. Denn dabei wird man sehr schnell ungerecht. Sie sehen ja: Es gibt immer wieder Weichen. Man nimmt aber immer nur den Pfad, der einem passt. Man biegt sich die Wirklichkeit zurecht. Und richtet damit zugleich. Das ist oftmals nicht reversibel, denn man richtet damit auch etwas an. Nur einmal angenommen, es wird jemand verdächtigt, die Logik, wie gerade konstruiert, stimmt zwar in sich, und er wird daraufhin verhaftet, beschuldigt und angeklagt, ist aber vielleicht unschuldig, weil eine ganz andere Logik zutrifft. Können Sie abschätzen, was Sie da mit Logik anrichten? Wollen Sie dafür verantwortlich sein?«
Er stand wieder auf, ging zum Fenster.
»Das ist für mich ein großes Grundproblem: Ob etwas stimmt, oder ob es nur stimmig ist. Was stimmt, ist richtig. Was stimmig ist, ist oftmals falsch. Ist logikgetrieben. Und dann richtet es Schaden an. Nur – wir können das meistens gar nicht mehr unterscheiden.«
Er setzte sich wieder hin, eingequetscht zwischen Tisch und Wand.
»Ich helfe Ihnen gern. Ich kann Ihnen aber im Moment nicht weiterhelfen. Ja, es ist alles denkbar, was Sie mutmaßen. Da lässt sich problemlos auch ein Kontext mit Fußball, dem Club, Savitas oder Atomenergie hineinbasteln, wenn man nur ein paar Anhaltspunkte hat. Das entbehrt alles nicht einer gewissen Logik, auch nicht einer zwingenden. Aber es genügt nicht, um es für wahr zu nehmen. Das könnte ein großes Unrecht sein. Sie brauchen ganz einfach Beweise – aber Sie haben ja noch nicht einmal eine Person.«
Behütuns hatte eigentlich nur die Hälfte verstanden, wenn überhaupt. Und trotzdem hatte er auf eine eigentümliche Art alles begriffen, intuitiv, und das nur zu gut. Und dass das so war, war genau sein Problem. Dr. Hartung hatte ihm sehr geholfen. Beim Denken. Und gleichzeitig auch überhaupt nicht. Er hatte recht: Gedanken sind gut und wichtig. Aber sie dürfen nicht alles sein. Dürfen nicht die Wirklichkeit bestimmen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie richtig
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