Schafkopf
verschwindend gering ist.«
Er nahm sich ein abgegriffenes Heftchen vom Regal.
»Unser Telefonbuch.« Er hielt es kurz hoch, eine Geste, die alles sagte.
»Ein Kollege von mir, Grongel, nein, korrekt, darauf legt er Wert: Herr Dr. Grongel, Dr. Atze Grongel, war lange in Massachusetts. Seit knapp drei Jahren ist er hier. Chef der Anästhesisten, aber gelernter Chirurg. Ich ruf ihn mal an.«
Er wählte.
»Hartung, Grüß Sie, Frau Dieter. Ist Dr. Grongel da?«
»– - –«
»In Madrid? Okay.«
»– - –«
»Übermorgen wieder? Na gut, danke. Ich ruf wieder an.«
Damit legte er auf.
»Fehlanzeige. Herr Dr. Atze Grongel war auf einem Kongress in Barcelona, hat ein paar Tage Urlaub drangehängt und ist jetzt auf einem Kongress in Madrid. Danach kommt er zurück. Übermorgen soll er wieder hier sein, da hat er Dienst. Ich werde ihn dann persönlich fragen.«
Er legte das Telefonheft zurück. Es löste sich langsam auf.
»Und jetzt zu Ihrer Frage. Das mit der Persönlichkeit.«
Er setzte sich wieder an den Tisch. Besser: Er quetschte sich zwischen Tisch und Wand auf einen Stuhl. Dann drehte er den Stuhl seitlich, damit er mehr Platz hatte. Nahm die Füße auf den danebenstehenden Stuhl.
»Nur so geht's. So eng kann man nicht denken. Also. Ja doch, das ist schon ziemlich quer, eigentlich. Aber ich habe hier schon Sachen erlebt, die kann sich kein Krimiautor ausdenken. Da würde er bei jedem Verleger durchfallen.«
Er spielte mit seinen Fingern an seiner Nase.
»Kaffee?«
»Nein danke, der Geruch reicht mir schon. Ihr Kaffee riecht ja wie das, was man in der Fränkischen unter dieser Bezeichnung serviert bekommt. Und wenn ich einen Grundsatz habe, dann den: Trinke nie in der Fränkischen Kaffee. Was die einem da anbieten – das ist so schlimm wie in der Normandie. Nur da gibt's noch schlechteren Kaffee. Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen, was ich da schon vorgesetzt bekommen habe … Und Ihr Kaffee hier, sorry, riecht ganz genauso. Mindestens schon drei Stunden alt. Also lieber nicht.«
Hartung blickte verwirrt. »Dem Kaffee fehlt nichts. Von heute früh. Frisch gekocht.« Albern sah er aus in seinem weißen Kittel. Das ist eine komische Tradition. Laufen herum wie die Maler, dachte Behütuns.
Dann sagte Hartung, resümierend, überlegend:
»Ein Kind verliert seine Mutter. Dann hat es nur noch seinen Vater. Für das Kind das Ein und Alles, im Dorf jedoch ist der Vater nichts. Das merkt so ein Kind, oder es kann es merken. Umso enger wird erst einmal die Beziehung zum Vater. Denn was nicht sein darf, das kann nicht sein. Wirklichkeit ist ja manchmal ein aberwitziges Konstrukt. Und je aberwitziger, desto fragiler. Und je fragiler, desto heftiger wird sie verteidigt, also desto unangreifbarer wird sie, damit umso unzerstörbarer, fester und stärker. Das ist eine dieser vielen Paradoxien. Je fragiler eigentlich anfänglich etwas ist, desto fester wird es. Weil man eine ganze Menge Kleber dafür investiert.
Nach Ihrer Vermutung müsste das also so gesehen werden: Der Vater wird für den Sohn aus dem Grund zur Überperson, weil der Sohn nur so mit dem Schmerz über den Tod der Mutter hinwegkommt. Das ist plausibel. Der Vater jedoch, und das kriegt der Sohn natürlich nicht mit oder will es nicht mitkriegen – und darf und kann es ja auch nicht, weil es seine Grundfesten erschüttern würde –, der Vater also scheitert gleichzeitig an seiner Umwelt. In Wirklichkeit aber an sich selbst. Wieder so eine Paradoxic Der Vater kämpft scheinbar schon ein Leben lang um Anerkennung … und dann geschieht etwas, das ihn in seinem sozialen Kontext, dem Dorf, wenn man da überhaupt noch von sozialem Kontext sprechen kann, ganz öffentlich der Lächerlichkeit preisgibt. Der Schafskopf.«
Hartung kratze sich am Kopf und nickte versonnen.
»‘ne harte Nummer, Respekt! Dieser Mann hat ja jetzt nichts mehr – nicht einmal seinen Sohn. Denn bei dem kann er ja auch keine Hilfe erwarten, ganz im Gegenteil, für den muss er ja stark und der Große sein. Puh. Und dann bringt er sich um. Blöd, aber plausibel. Die Welt ist halt doch im Kopf …«
Hartung war jetzt ganz in den Fall, in die Biografie versunken.
»Und was dann geschieht, ist klar – und irgendwie auch zwangsläufig, zumindest im Nachhinein erklär-, nein: plausibel rekonstruierbar: Das, der Tod des Vaters, wirft den Kleinen in ein gnadenloses Loch, gleichzeitig wird der Vater dadurch immer größer. Noch stärker überhöht. Der Kleine kann ja
Weitere Kostenlose Bücher