Schandweib
die Diener von hinten an den Tisch heran und trugen die Teller ab, während durch die sich leise öffnende Flügeltür bereits große Platten mit dem nächsten Gang hereingetragen wurden.
»Da mögt Ihr recht haben, Syndikus Lorenz«, warf Benjamin Levi erneut ein, ohne sich von den Verrichtungen der Diener ablenken zu lassen. »Fast auf den Tag genau vier Jahre ist es jetzt her, dass der Zar hier in Amsterdam weilte. Offiziell war er einfach nur ein Edelmann, aber wir alle wussten doch, dass es Peter von Russland war, der hier inkognito als Meister Pieter auf den Werften der Ostindien-Kompanie arbeitete. Durch keinen Fehlschlag war der Mann zu entmutigen. Gelang ihm eine Arbeit nicht sogleich, probierte er so lange herum und übte jeden Handgriff einzeln ein, bis alles genau so war, wie es sein sollte. Ich war in jenem Sommer häufig draußen bei den Schiffen, um Begutachtungen für unsere Finanzierungen einzuholen. Man konnte den Mann kaum übersehen. Baumgroß ist er und mächtig stark. An den Abenden sah man ihn das Bier Krug um Krug in sich hineinschütten. Auch da gab er erst auf, wenn das Fass leer war.«
»Ihr habt den russischen Zaren getroffen?«, fragte Ruth aufgeregt. »Das muss ein großartiges Erlebnis für Euch gewesen sein. Er soll so ein faszinierender Mann sein, der sich ganz ausgezeichnet in der Mathematik auskennt. Auch die Astronomie und die Navigation gehören wohl zu seinen Interessen.«
»Ja, ich habe ihn getroffen, Fräulein Ruth. Aber fasziniert hat er mich nicht unbedingt. Maßlos schien er mir zu sein, mit schlechten Manieren ausgestattet, so wie er da mit den Zimmermännern um die Wette trank. Auch mit den Frauen soll er recht ungehobelt sein. Und was seine anderen Kompetenzen angeht, so scheint er in der Kriegskunst ja nicht zu brillieren.«
Nur mit Mühe gelang es Ruth, ihre Enttäuschung über diese Äußerung zu verbergen, war sie doch zutiefst beeindruckt vonall den Geschichten, die sie bisher über den jungen Zaren gehört hatte. Sie griff nach dem funkelnden Pokal vor ihr und trank einen kleinen Schluck des schweren roten Weines, der zu dem koscheren Kalbsbraten gereicht worden war.
»Unterschätzt den russischen Zaren nicht leichtfertig, Benjamin. Aus dem Nichts schuf er vor wenigen Jahren eine Flotte und nahm den Türken die Festung Asow am Kaspischen Meer ab. Um das zu schaffen, braucht es wahrlich mehr als ein gutes Trinkvermögen. Und auch dieser Tage kann man an der Börse schon wieder einige Geschäfte bemerken, die sehr wohl mit Moskau in Verbindung stehen können.«
»Da kennt Ihr Euch besser aus, Herr Abelson, wenn es um verdeckte internationale Geschäfte geht. Mir liegt mehr das Offensichtliche. Als junger jüdischer Bankier in Amsterdam weiß ich, dass ich nur durch korrektes und traditionsbewusstes Verhalten bei meinen Kunden für Vertrauen sorgen kann.«
»Auf dieses Vertrauen könnt Ihr auch sehr stolz sein, junger Mann. Ich habe Euch ja in den letzten Wochen beobachten können und bin beeindruckt, wie sorgfältig und zuverlässig Ihr mit den Euch anvertrauten Aufgaben umgeht. Sollte es mir eines Tages nicht mehr möglich sein, mich persönlich um meine Geschäfte zu kümmern, so seid Ihr meine erste Wahl, deren Betreuung zu übernehmen.«
Benjamin Levi errötete über Abelsons unerwartetes Lob, zugleich formte sich ein stolzes Lächeln um seinen Mund.
Vorsichtig tupfte sich Ruth die Mundwinkel mit der linnenen Serviette ab musterte dabei unverhohlen den jungen Mann, der wieder das Wort ergriff und über die jüngsten Modernisierungsmaßnahmen an der Amsterdamer Börse sprach. Äußerlich unterschied er sich kaum von den Holländern, die in dieser Gegend heimisch waren. Er hatte dunkelblondes Haar, das entgegen derMode recht kurz geschnitten war. Seine Gesichtszüge wirkten eher weich und rundlich, die Lippen waren voll und hatten einen rosafarbenen Schimmer. Seine runden grauen Augen betonten die weichen Züge. Obwohl er schon Mitte zwanzig war, lag noch kein sichtbarer Bartschatten auf seinen Wangen, sondern die Haut schimmerte glatt und ebenmäßig. Alles in allem war er keine hässliche Erscheinung, mittelgroß und gerade gewachsen, wenn auch nicht übermäßig kräftig. Auch seine Stimme war nicht unangenehm. Dennoch spürte Ruth eine gewisse Spannung zwischen seinem wirtschaftlichen Denken und geschäftlichen Handeln, beides von sich ständig wandelnden Gegebenheiten bestimmt, und seinen persönlichen Einstellungen, die konservativ und traditionell
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