Schandweib
ich bin dir sehr dankbar für das schöne Leben, das wir beide führen. Am liebsten möchte ich, dass es immer so bleibt.«
»Nichts bleibt immer so, wie es ist, mein Kind. Mit jedem Tag ändert sich die Welt, und auch unsere Aufgaben in ihr ändern sich von Zeit zu Zeit.« Abelson betrachtete seine Tochter, die ihre grauen Augen niederschlug und an der Schürze über ihrem hellblauen Seidenkleid nestelte. Eine Strähne ihres schwarzen Haares löste sich und streifte sanft ihre Wange.
»Was bedrückt dich, mein Kind?« Behutsam nahm der alte Mann die zierliche Hand seiner Tochter zwischen seine knochigen Finger und drückte sie zärtlich.
Ruth wandte ihren Blick wieder aus dem Fenster, bevor sie anfing zu sprechen. »Für mich nähert sich wohl die Zeit, dass ich heiraten soll, wenn ich dich und unsere Reise recht verstehe.«
»Nun, du bist eine hübsche junge Frau und wirst nächste Woche neunzehn Jahre alt. Da ist es durchaus nicht abwegig, dass du bald heiratest. Wir haben in den letzten Wochen ja auch einige recht interessante junge Männer getroffen, von denen sicher der eine oder andere als ein künftiger Ehemann in Frage kommen könnte.«
Ruth seufzte leise.
»Wie gefällt dir denn Benjamin? Ich persönlich halte ihn für einen vielversprechenden jungen Mann. Er ist gebildet, sehr vermögend, und er scheint mir ein verantwortungsvoller Mensch zu sein. Schließlich hatte ich in den letzten Wochen wiederholt Gelegenheit, ihn bei der Arbeit und im Umgang mit anderen Menschen zu beobachten. Letztes Jahr gelang es ihm ganz allein, die niederländische Ostindien-Kompanie als Kunden für die Levi-Bank zu gewinnen. Drei Millionen Gulden finanziert die Bank der Kompanie, damit sie den Niederländischen Staaten die ihr gewährten Privilegien und Handelsmonopole bezahlen kann. Als Sicherheiten haben die Levis Aktien der Kompanie erhalten. Wenn die sich weiter so entwickeln, wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten getan haben, dann wird aus dem kleinen Bankhaus Levi bald eines der größten der Niederlande. So wäre Benjamin eine wahrlich nicht zu verachtende Partie.«
Ruth hielt ihren Blick starr auf das glitzernde Wasser der Nieuwe Herengracht gerichtet.
»Auch Jakob und Esther sind anständige Menschen, gute undgläubige Juden, die eine schätzenswerte Form gefunden haben, unsere Traditionen mit den Gegebenheiten der modernen Zeit zu vereinen. Ein Leben unter ihrem Dach könnte für dich viele Annehmlichkeiten bringen und dir auch Raum geben, deinen musischen Neigungen weiterhin nachzugehen.«
»Möchtest du denn nicht mehr mit mir unter einem Dach leben, Vater?«
»Ruth, meine Tochter, natürlich möchte ich nichts lieber, als mit dir zusammen meine Zeit zu verbringen. Du bist das einzige Kind, das mir geblieben ist. In deinem Gesicht sehe ich jeden Tag die Züge deiner Mutter, die ich über alles geliebt habe. Aber ich bin ein alter Mann, und auch meine Tage sind gezählt. Ich denke an deine Zukunft, an dein Lebensglück, wenn ich dir von der Ehe spreche. Du brauchst jemanden, der für dich sorgt, wenn ich einmal nicht mehr bin. Für eine Frau sind die Ehe und die Mutterschaft nun einmal die Krone des hiesigen Daseins. Erst als Ehefrau und Mutter wirst du die gesellschaftliche Anerkennung finden, die du dir wünschst. Und glaube mir, mein Kind, erst als Mutter wirst du die innere Erfüllung finden, nach der wir Menschen uns sehnen.«
Ruth schwieg und starrte weiter aus dem Fenster. Sie teilte nicht die Ansichten ihres Vaters über die Ehe und die Mutterschaft. Sie sah nur die traurigen Augen ihrer Mutter vor sich, die so viel Leid, so viel Verlust hatte ertragen müssen mit jedem Mal, wenn eines ihrer Kinder von ihr ging.
Ruth fühlte sich einfach nicht bereit für diesen Weg. Zumindest noch nicht. Sie wollte mehr lernen, am liebsten studieren. Aber das war natürlich völlig unmöglich als Frau. Die Universitäten waren den Männern vorbehalten. Doch wenigstens wollte sie noch etwas von der Welt sehen und über sie erfahren. Wäre sie erst einmal verheiratet, dürfte sie keinen Schritt mehr alleinvor die Tür setzen, da sich das für eine ehrbare verheiratete Frau nicht schickte. Jetzt aber, in der Rolle der Tochter, konnte sie ihren Vater begleiten, wie hierher nach Amsterdam oder vergangenen Sommer nach London. Warum sollte es nicht einfach so weitergehen können? Eine Weile wenigstens noch.
Sie biss sich auf die Lippen und zwang sich, ihrer Stimme Ruhe und Zuversicht geben, bevor sie dem alten
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