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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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unerbittlicher Wucht.
    Am Nachmittag des siebzehnten Tages rutschte ihm ein Zweig in die Sandale. Er hielt ihn gegen die Sturmwolken, betrachtete ihn und verlor sich in seiner Gestalt. Er staunte, welchen Weg das schmale Holz übers Firmament nahm, und erschrak darüber, wie viel Leere die dünnen, aber zähen Verzweigungen aus dem Himmel sogen. Ob die Form dieses Zweigs wohl zufällig war? Oder war er gegossen worden? War er womöglich die Gussform selbst? Er blickte höher auf und sah einen Himmel voller Äste, die sich unendlich verzweigten. Dabei hatte er immer gedacht, es gebe an jedem Himmel nur einen Weg. Er wusste nicht, wie lange er so dagestanden hatte, doch es war dunkel geworden, ehe ihm der Zweig aus den Fingern glitt.
    Am Morgen des neunundzwanzigsten Tages kauerte er auf moosbedeckten Felsen und sah springenden Lachsen zu, die sich im reißenden Wasser flussaufwärts arbeiteten. Dreimal stieg und sank die Sonne, ehe seine Gedanken dem Bannkreis des unerklärlichen Kriegs Fisch gegen Fluss entkommen konnten.
    In den schlimmsten Augenblicken erschienen ihm seine Arme nur als Schatten in schattenhafter Umgebung, und er glaubte, der Rhythmus seiner Schritte laufe ihm weit voraus. Der zäh festgehaltene Gedanke an seine Mission war alles, was ihn noch mit seinem früheren Selbst verband. Ansonsten hatte ihn das Denken verlassen, und die Grundsätze der Dunyain waren ihm nicht mehr bewusst. Er war wie ein Blatt Pergament unter freiem Himmel, dessen Text täglich unleserlicher wurde, bis nur ein letztes Gebot übrig war: Shimeh… Ich muss meinen Vater in Shimeh finden.
    Weiter und weiter wanderte er nach Süden durch das Hügelland am Fuße des Demua-Gebirges. Seine Verwirrung nahm immer mehr zu, bis er sein Schwert nach Regengüssen nicht mehr ölte, bis er nicht mehr schlief und nicht mehr aß. Es gab nur die Wildnis, das Gehen und die Tage, die vorüberzogen. Die Nächte verbrachte er wie die Tiere im kalten Dunkel.
    Shimeh. Bitte, Vater.
    Am dreiundvierzigsten Tag durchwatete er einen seichten Fluss. Am anderen Ufer war alles zu schwarzer Asche verbrannt. Frisch aufgeschossenes Unkraut war das einzige Lebenszeichen. Tote Bäume wiesen wie schwarz gestrichene Speere zum Himmel. Er bahnte sich einen Weg durch die Zerstörung, und Unkraut zerstach ihm die nackten Schenkel. Schließlich erreichte er den Rücken eines Höhenzugs.
    Das ungeheure Tal vor ihm verschlug Kellhus den Atem. Jenseits des Brandgebiets, wo der Wald noch dicht und voll Getier war, ragten alte Befestigungsanlagen über den Bäumen auf und bildeten in der klaren Herbstluft ein großes Rund. Er sah Vögel um die näher gelegenen Festungen kreisen und im Sturzflug über gesprenkelte Mauern schießen, ehe sie im Blätterdach des Waldes verschwanden. All diese Mauern waren nur Ruinen und wirkten so kalt und trostlos, wie ein Wald es nie könnte.
    Die Ruinen waren viel zu alt, um in echtem Gegensatz zum Wald zu stehen, der sie im Laufe vieler Jahrhunderte überwuchert, angegriffen, untergraben hatte. Im Schutz moosiger Senken durchbrachen Mauern Erdwälle, endeten aber unvermittelt, als hielten die Schlingpflanzen sie zurück, die die Steine umgaben wie Adern und Sehnen die Knochen.
    Doch zwischen den Ruinen war etwas zu spüren, das mit der Gegenwart nichts zu tun hatte und Kellhus auf ungewöhnliche Weise ergriff. Als er mit den Händen über die Steine fuhr, war ihm klar, dass er die Überbleibsel menschlicher Mühe und Plage berührte – die Spuren einer untergegangenen Zivilisation.
    Der Boden unter ihm schien zu kreisen. Kellhus beugte sich vor und drückte die Wange ans staubige Gestein, das kalt war, weil knorrige Äste das Sonnenlicht abhielten. Hier hatten Menschen gelebt, wie die alten Mauern bewiesen, Mauern, bis zu denen die unerbittlichen Überzeugungen der Dunyain nicht gedrungen waren. Irgendwie hatten diese Menschen dem Schlaf widerstanden und der Wildnis die Arbeit ihrer Hände entgegengesetzt.
    Wer mag diese Anlage errichtet haben?
    Kellhus schritt die Erdwälle ab und spürte, wie viele Ruinen unter dem Waldboden begraben waren. Endlich erinnerte er sich seines Rucksacks, den er seit langem ungeöffnet mit sich herumtrug, machte ihn auf und aß einige trockene Waffeln und ein paar Nüsse. Er fischte Blätter von einer kleinen Regenwasserpfütze, trank daraus und musterte dann neugierig sein dunkles Spiegelbild. Wie lang sein blondes Haupthaar und sein Bart geworden waren!
    Bin ich das wirklich?
    Er beobachtete

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