Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
sie zur Seite, um Gudrun passieren zu lassen, als diese den Durchgang erreichte. Wortlos sahen sie ihr hinterher, ihrer kleinen, zierlichschmächtigen Gestalt, nackt und ohne Haare, ihrer früheren Offizierin, ihrem Idol.
Einem Schatten.
Schweiß trat auf Keelins Stirn, als sie Veronika davongehen sah. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, ihre Zähne so fest aufeinandergebissen, dass ihre Kiefer schmerzten. Sie musste etwas tun. Sie durfte nichts tun. Sie hatte keinen blassen Schimmer. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich, und jeder neue war noch unsäglicher als der letzte.
Als sie Mathew Murray den Dolch in die Brust gestoßen hatte, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie hatte für sich beschlossen, diese Kreaturen für gefährlich zu halten, so gefährlich, dass sie getötet werden mussten. Demnach musste sie auch diese Veronika töten, allein schon für Eibe. Wenn ihr Baumzeichen für eine Eigenschaft stand, dann war dies Konsequenz. Es war nur konsequent, wenn sie diese Veronika nicht gehen ließ, sie gleich behandelte wie alle anderen.
Doch wie würde Wolfgang darauf reagieren, wie die Fallschirmjäger? Schon jetzt stand in ihren Gesichtern das Grauen. Was würde es mit ihnen tun, wenn Keelin jetzt noch Veronikas Tod forderte? Oder sie gar vor ihren Augen tötete? Mehrere der Männer weinten, darunter auch Bauer, der Anführer der Fallschirmjäger. Wolfgang liefen die Tränen nur so über das versteinerte Gesicht. Kein Einziger machte auch nur irgendwelche Anstalten dazu, Veronika aufzuhalten.
Keelin ließ ihren Blick ein weiteres Mal über die Gesichter wandern und wusste, dass sie es nicht tun durfte. Sie konnte es ihnen nicht antun, diesen Männern, die so viel dafür riskiert hatten,hier und jetzt an diesem Ort zu stehen, und dafür so bestraft worden waren. Zur Hölle mit der Konsequenz. Sie nickte. Ja. Und zur Hölle mit Eibe. Der Eibe zu folgen bedeutete harte Entscheidungen. Dieses Mal lag die Härte der Entscheidung darin, sie gegen den Willen ihres Baumzeichens zu treffen.
Doch was ist, wenn Veronika dort hinausgeht und Menschen umbringt?
, fragte ihre innere Stimme.
Wie immer gab es keine richtige Antwort. Nur eine Antwort, die auf diesen Moment passte.
Dann töte ich sie
, versprach sie sich selbst.
Dann, nicht jetzt.
Sie fühlte sich besser, die Entscheidung getroffen zu haben.
Sie wartete, bis Veronika im Durchgang verschwunden war. Dann wartete sie noch eine Weile länger, eine Weile, in der sie die übrigen Schatten sorgfältig im Auge behielt, um darauf aufzupassen, dass keiner von ihnen irgendetwas unternehmen konnte, um sich zu befreien oder ihre Männer zu gefährden. Es war unnötig. Die Kreaturen waren zu sehr mit sich und ihrer Situation beschäftigt.
Schließlich ging sie zu Wolfgang, der noch immer den Durchgang anstarrte. »Weißt du, was wir heute hier erreicht haben?«, flüsterte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Das Gesicht des Jarls verzerrte sich zu einer wütenden Fratze. Er holte Luft, setzte dazu an, ihr ins Gesicht zu schreien … ließ die Luft aber abrupt wieder ab. Der Hass wurde von erneuter Verzweiflung verdrängt.
»Wir haben erreicht, weswegen wir gekommen sind«, erklärte sie leise. »Wir haben eine Antwort auf die große Frage. Wir wissen, wie sie sich vermehren. Wir wissen, wo sie es tun. Und wir wissen, wie wir sie dabei stören können. Wolfgang, dies ist unsere große Chance, den Krieg gegen die Schatten noch zu gewinnen! Mehr konnten wir uns von dieser Mission nicht erhoffen!«
Wolfgang presste die Lippen zusammen. Sie hatte Recht. Abgesehen davon, was hatte er hier unten verloren? Er hatte Gudrun für tot gehalten, als er durch das Tor gestiegen war, nun war sieein Schatten und ihm damit nicht näher und nicht ferner. Es hatte sich nichts verändert. Dafür hatten sie tatsächlich eine Antwort, sie kannten nun den Schattenfluch. Ab jetzt konnten sie zurückschlagen gegen dieses ausufernde, wuchernde Geschwür, das die Schatten darstellten.
Es war ein Sieg. Ein enormer Sieg, jetzt, wo er darüber nachdachte, wichtiger als beide Feldschlachten, die in diesen Tagen bei Otta und Åndalsnes geschlagen wurden. Die Welt hatte noch einmal eine Chance, die würgende Umklammerung der Schatten abzuschütteln.
Für den Moment fühlte sich dieser Sieg schal an, der Beigeschmack, den Gudruns Anwesenheit hinzugefügt hatte, war schier unerträglich. Wolfgang ballte die Hände zu Fäusten. Er würde es überstehen. Und dann
Weitere Kostenlose Bücher