Schattenfluegel
gefunden. Sigurd war schließlich ein ganz passabler Ersatz gewesen.
Aber dann, ein paar Wochen nach Ninas Tod, hatte Kims Mutter sich völlig überraschend und von einem Tag auf den anderen von Sigurd getrennt.
Als Nina verschwand, war Sigurd gerade in der Wildnis Nordamerikas unterwegs. Mehrere Male war er dort gewesen und hatte für einen großen Artikel über die Navajo-Indianer recherchiert. Man hatte ihn erst ungefähr zwei Wochen nach jenem grauenhaften Sonntag erreichen können. Das hatte Kims Mutter ihm nie so recht verziehen. Sie habe die Tatsache nicht ertragen können, dass er ausgerechnet in ihrer schwersten Stunde nicht bei ihr gewesen sei, hatte sie gesagt.
»Entschuldige«, lenkte Kim ein, weil sie trotz der Entfernung spürte, dass sie ihre Mutter verletzt hatte.
»Schon gut«, kam es zurück. »Du hast ja recht.«
Als sie in die Klinik gemusst hatte, hatte Kims Mutter keine andere Möglichkeit gesehen, als Sigurd zu fragen, ob er sich um Kim kümmern könnte. Natürlich hatte er mit Freude eingewilligt, und Kim wusste, dass er sich Hoffnungen machte, wieder mit Johanna zusammenzukommen.
Sie spürte schon wieder ein Seufzen in ihrer Brust aufsteigen. Diesmal unterdrückte sie es.
»Muss ich mir Sorgen um dich machen?«, fragte ihre Mutter.
Kim schielte zu dem Bücherregal und dem dunkelroten Tagebuch. »Nein, natürlich nicht!«
Sie sprachen noch eine Weile über belanglose Dinge wie die letzte Mathearbeit, bei der Kim nur mit Mühe eine Vier geschafft hatte, und über den neuen Arzt ihrer Mutter, der anscheinend einen unerträglichen Mundgeruch hatte. Nachdem es Kim gelungen war, glaubwürdig ein- oder zweimal zu lachen, war auch ihre Mutter so beruhigt, dass sie das Gespräch beenden konnte.
»Kim?«, sagte ihre Mutter zum Abschluss.
»Ja?«
»Ich hab dich lieb!«
Kim nickte, obwohl ihre Mutter das nicht sehen konnte. »Ich weiß, Mom!«
Kapitel 3
Kim träumte fast jede Nacht von ihrer Schwester.
Im Traum sah sie sich meist selbst durch einen dunklen Wald laufen und über Ninas Leiche stolpern. Ninas Körper war von ihr abgewandt, und immer in dem Moment wenn Kim sich über sie beugte, um ihr ins Gesicht zu schauen, wachte sie auf, kurz bevor sie etwas erkennen konnte. Oft weinte sie danach.
Manchmal jedoch waren die Träume auch schön und wie Erinnerungen an alte Zeiten, in denen sie und Nina zusammen glücklich gewesen waren. Zum Beispiel damals, als sie im Schwimmbad gemeinsam einen kleinen Jungen vor dem Ertrinken gerettet hatten. Oder immer wenn sie gemeinsam mit dem Rad zum Waldschlösschen gefahren waren, dem stillgelegten Ausflugslokal oben im Wald. Als Kim acht und Nina zehn gewesen war, hatten sie oft dort oben gespielt und sich vorgestellt, sie seien verwunschene Prinzessinnen, die in ihrem Zauberschloss auf den Märchenprinzen warteten.
Auf eigentümliche Weise waren diese schönen Träume fast noch beängstigender für Kim als die schlimmen.
In dieser Nacht jedoch, der Nacht, nachdem sie Lukas kennengelernt hatte, war alles vollkommen anders. Diesmal sah sie sich im Traum auf einem Bahngleis stehen. Ein roter Zug mit einer schnaufenden Dampflok stand auf dem Gleis und außer ihr und Nina war niemand zu sehen. Nina lehnte sich in einem der Zugabteile aus dem Fenster. Um ihre Handgelenke war ein weißer Kabelbinder gebunden, den man so festgezurrt hatte, dass die Haut rechts und links davon blau angelaufen war. »Mach’s gut, Schwesterchen!«, sagte Nina mit einem Lächeln.
Kim war nicht nach Lächeln zumute. »Geh nicht fort!«, sagte sie und griff nach Ninas kalten Händen. Sie konnte den Blick nicht von dem Kabelbinder lassen.
»Ich muss, Schätzchen!« Und damit entzog Nina sich ihr. Der Zug setzte sich in Bewegung. Kim lief neben ihm her. Nina rief ihr etwas zu, das sie aber durch den Lärm der Lokomotive nicht verstehen konnte. Der Zug wurde schneller und schneller und schließlich musste Kim am Ende des Bahnsteigs stehen bleiben. Sie schaute zu, wie Nina ihr mit den gefesselten Händen zuwinkte und wie die Gestalt ihrer Schwester am Zugfenster kleiner und kleiner wurde und schließlich in der Ferne verschwand.
In diesem Moment wusste sie plötzlich, was Nina zu ihr gesagt hatte.
Du hättest ans Handy gehen sollen!
Und genau im gleichen Moment, wachte sie auf.
Einige Minuten blieb sie regungslos liegen und sah zu, wie das Mondlicht durch das Geäst des Baumes vor ihrem Fenster fiel und zuckende Schatten auf ihre Möbel warf. Dann hielt sie die innere
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