Schattenfluegel
Lukas das blutverschmierte T-Shirt aus dem Schrank nahm, mit dem man ihn eingeliefert hatte. Er hob es in die Höhe und starrte einen Moment darauf.
»Und?«, fragte er.
»Sie haben ihn von der Schule geschmissen«, erklärte Kim. »Wegen der Prügelei mit dir hauptsächlich, aber auch wegen einiger anderer Sachen.«
Lukas stieß einen Seufzer aus und warf das T-Shirt kurzerhand in den Müll. Dann ging er zu seinem Schrank zurück und streckte die Hand nach der alten Jeansjacke aus. Auch sie hatte eine Menge Blut abbekommen. Nachdenklich schaute er darauf.
»Johanna hat gesagt, sie bekommt das wieder sauber.«
Er sah auf. Dann nickte er. »Gut.«
Kim schluckte. »Der Libellenflügel«, murmelte sie.
Lukas hob eine Augenbraue, dann erst schien er zu begreifen, was sie meinte. »Oh!« Er legte die Jacke auf das Bett. »Den hatte ich ganz vergessen.« Vorsichtig tastete er in der Tasche herum und beförderte den Flügel zwischen Zeige- und Mittelfinger hervor.
Allein bei seinem Anblick zitterten Kims Knie.
Lukas trat vor sie hin. Er roch nach Duschgel. Seine Haare waren noch ein wenig nass. »Nimm ihn«, sagte er leise und hielt den Flügel zwischen ihnen in die Höhe. »Und dann wirf ihn weg!«
Kim zögerte.
Lukas stand ganz still und wartete.
Endlich gab Kim sich einen Ruck. Sie griff nach dem Flügel, pflückte ihn aus Lukas’ Fingern. Das filigrane Gebilde fühlte sich so harmlos an. Ein zerbrechliches Ding, das ihr nichts mehr anhaben konnte. Sie starrte darauf.
Dann ging sie zu dem Mülleimer, in dem auch schon Lukas’ T-Shirt verschwunden war. Es klapperte, als sie auf den Mechanismus trat, der den Deckel öffnete. Sie atmete einmal tief ein und warf den Flügel hinein. Anschließend ließ sie die Fußtaste wieder los.
Mit einem satten Schmatzen fiel der Deckel zu. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges. Langsam ließ Kim die Luft durch die Nase entweichen. Sie stand mit dem Rücken zu Lukas.
»Lukas, ich …«, begann sie, aber sie wurde unterbrochen, weil er ihr von hinten beide Hände auf die Schultern legte und sie zu sich umdrehte. Ganz nah war er ihr jetzt und sie konnte seine dichten Wimpern sehen.
»Scht!«, machte er sehr leise.
Dann beugte er sich vor und gab ihr einen zarten Kuss. Ein oder zwei Sekunden berührten sich ihre Lippen. Kim stand wie vom Donner gerührt da und wusste nicht, was sie tun sollte.
Lukas interpretierte ihre Reaktion völlig falsch.
Erschrocken löste er sich von ihr und trat einen Schritt zurück. Forschend blickte er ihr in die Augen und sie sah Angst in seinem Blick.
Sie konnte nicht anders, sie wich ihm aus.
Da wandte Lukas sich ab. Er nahm seine Jacke auf, starrte sie an, dann warf er sie auf das Bett zurück und drehte sich mit einem Ruck wieder zu Kim um. Jetzt war sie es, die auf ihn zuging, bis sie seinen Atem über ihre Stirn streichen spüren konnte.
»Als Sigurd glaubte, dass er mich an dich verliert, wollte er dir den Mord an Nina anhängen«, hörte sie sich sagen.
»Nina war nicht meine Freund…«
Kim legte ihm die Finger auf die Lippen. »Ich weiß. Aber Sigurd wusste das nicht. Als er verstanden hatte, dass ich in dich … verliebt war, wusste er wohl nicht, was er machen sollte. Er wollte mich nicht töten. Eigentlich wollte er das bei Nina auch nicht. Es war wohl fast ein bisschen wie ein Unfall. Er hoffte, dass er diesmal einfach dich loswerden konnte, wenn die Polizei glauben würde, dass du der Mörder bist.«
Lukas griff nach Kims Hand und löste sie von seinen Lippen. Seine Berührung kribbelte auf ihrer Haut. Er sah ihr in die Augen und jetzt war die Angst darin verschwunden. »Du hast dich in mich verliebt?«
Kim lächelte, sagte jedoch nichts.
Da flog ein Schatten über Lukas’ Gesicht. »Wirst du damit klarkommen, dass ich – genau genommen – der Grund für Ninas Tod war. Und fast auch für deinen?«
Kim rührte sich nicht. Lukas Finger wanderten an ihrem Unterarm nach oben. Es kribbelte in ihrem Nacken. Er würde sie nicht wegschicken!, jubilierte etwas in ihr. Er hatte ihr den Schlag mit der Eisenstange und all ihre Zweifel verziehen. Dennoch konnte sie ihm auf seine Frage keine Antwort geben, weil sie sie selbst noch nicht kannte.
»Die Wahrheit ist«, murmelte sie, »dass ich es noch nicht genau weiß.« Sie hob den Blick und sah Lukas in die Augen.
Seine dichten Wimpern beschatteten seinen Blick.
»Mein Kopf sagt eher Nein«, fügte sie hinzu und wich ihm erneut aus.
Da ließ Lukas ihren Arm los, legte die
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