Schattenfluegel
Jonas grinste und ließ sich mit einer eleganten Bewegung neben sie auf die Bank gleiten. Dann rückte er so eng an sie heran, dass sich ihre Oberschenkel berührten. Betont lässig legte er Kim den Arm um die Schultern. »Schau mal, was ich hier für dich habe, Freaky!«, sagte er dabei.
Kim wollte sich von ihm losmachen, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick dabei auf Jonas’ Faust fiel, die er ihr jetzt präsentierte, als habe er darin einen kostbaren Schatz.
Kim erstarrte. Eine böse Vorahnung verursachte ihr eine Gänsehaut.
»Lass mich in Ruhe!« Ihre Stimme klang rau. Sie hasste sich dafür, denn nun sah sie Triumph in Jonas’ Augen aufblitzen.
Er wusste, dass er sie jetzt in der Hand hatte, und er genoss es.
Kim ertappte sich dabei, dass sie einen Blick in Lukas’ Richtung warf. Er saß noch immer regungslos, genau wie eben. Sein Arm lag weiterhin locker auf der Rückenlehne der Bank. Nur seine Finger zuckten leicht.
Da öffnete Jonas die Hand.
Und schlagartig wurde Kim schlecht.
Auf Jonas’ Handfläche lag eine Libelle.
*
Man hatte versucht, Kim nicht mit allen Einzelheiten des Mordes zu konfrontieren. Aber die Polizei musste jeder Spur nachgehen und so hatte Kriminalkommissarin Keller Johanna darum gebeten, Kim ein Foto zeigen zu dürfen. Zwar hatte Johanna zunächst ihre Zustimmung verweigert. Aber dann war der Wunsch, Ninas Mörder zu finden, doch größer gewesen als der nach Schutz für ihre jüngere Tochter. Also war sie mit Kim aufs Revier gefahren. Frau Keller hatte eine Fotografie aus einem Aktenstapel gezogen, deren Bild heute noch regelmäßig vor Kims innerem Auge auftauchte, sobald sie abends im Bett lag.
Es war ein Foto von Nina gewesen, eine Art Leichenporträt, denn natürlich war sie auf diesem Bild bereits tot. Ihre Haut war wachsweiß, die Augen geschlossen, sodass Ninas Wimpern auf den Wangen lagen wie zarte Fliegenbeine. Eine leblose Puppe, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass sie sich jemals bewegt hatte. Dies war nicht Kims Schwester, wie sie sie gekannt hatte. Weg waren das laute, immer ein wenig heiser klingende Lachen, das fröhliche Funkeln der hellblauen Augen, das leichte Kräuseln der Nase. Kim waren diese Details so vertraut gewesen wie ihr eigenes Gesicht. Doch nichts davon war jetzt auf diesem Foto noch zu sehen.
Auf dem Bild konnte man die Würgemale an Ninas Hals nicht erkennen und auch nicht die Kabelbinder, mit der ihr Mörder sie gefesselt hatte. Ein Tuch bedeckte ihren Körper bis unter das Kinn. Es gab keinen Hinweis darauf, woran Nina gestorben war. Trotzdem wusste Kim das natürlich. Und als wäre diese porzellanweiße Todesmaske nicht schon schrecklich genug gewesen, zeigte das Bild noch etwas anderes:
eine ungefähr fingerlange, grün schillernde Libelle.
Der Mörder hatte ihren schlanken Leib auf Ninas Nasenwurzel drapiert, sodass die filigranen Doppelflügel auf ihrer Stirn ruhten. Das Ganze wirkte wie ein absurdes, makabres Schmuckstück.
»Hast du irgendeine Idee, warum der Täter sie dorthin gelegt hat?«, fragte Frau Keller Kim mit sanfter Stimme.
Kim starrte auf das schillernde Insekt. Dann drehte sich plötzlich ihr Magen um. Sie schaffte es gerade noch bis zu dem Waschbecken in der Ecke des Polizeibüros, bevor sie sich übergeben musste.
»Du Arme!« Ihre Mutter eilte ihr zu Hilfe, strich ihr sanft über den Rücken, während sie würgte, und reichte ihr ein Papierhandtuch, als sie fertig war.
Mit einem bitteren Geschmack im Mund hatte Kim sich aufgerichtet und langsam den Kopf geschüttelt, ohne sich dabei zu Frau Keller umzudrehen. »Ich habe keine Ahnung«, hatte sie dann gesagt.
Kapitel 4
Mit einem Satz war Kim auf den Beinen. Sie wollte etwas sagen, wollte Jonas anschreien, er solle dieses Teil sofort wegnehmen, aber alles, was ihr über die Lippen kam, war ein heiseres Krächzen. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass Lukas nicht mehr ganz so entspannt dasaß, sondern sich vorgelehnt hatte. Aber er machte keine Anstalten, Kim beizustehen.
»Du … du verdammter Scheißkerl!«, presste Kim hervor. Ihr Blick wanderte zurück zu der Libelle, die Jonas ihr jetzt noch dichter unter die Nase hielt.
Sie konnte nicht anders, sie wich einen Schritt zurück. Ihre Kniekehlen prallten gegen die Bank und nur mit Mühe konnte sie das Gleichgewicht halten.
»Jonas, lass sie doch!« Einer der anderen Jungen, die sich hinter Jonas aufgebaut hatten, hörte sich ziemlich unsicher an.
»Wieso?«, höhnte Jonas. »Ist
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