Schattenfreundin
Anfang dreißig, was ihr natürlich sehr schmeichelte, und meistens ließ sie die anderen auch in dem Glauben. Dass sie gerade neununddreißig geworden war, ging schließlich niemanden etwas an.
»Warum musst du dir eigentlich die Nächte um die Ohren schlagen?«, hatte Ina sie schon oft gefragt. »Man könnte meinen, du hast ein Problem damit, allein zu sein.«
»Quatsch«, hatte Charlotte jedes Mal darauf geantwortet, aber natürlich wusste sie, dass etwas dran war an diesem Vorwurf. Es gab Tage, an denen fühlte sie sich wirklich einsam. Da war sie in einem Club oder in einer Kneipe besser aufgehoben als in ihrer Wohnung. Trotzdem wollte sie keine Beziehung und schon gar keine Familie. Das war ein Widerspruch, aber damit konnte sie ganz gut leben.
Charlotte schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Der einfache Holztisch passte zwar nicht zu der weißen Einbauküche, aber das machte ihr nichts aus. Ihre ganze Wohnung war spartanisch eingerichtet, nichts passte richtig zusammen. Charlotte fand es überflüssig, viel Geld für Möbel auszugeben. Sie war ja sowieso nur selten zu Hause.
Sie schlug die Zeitung auf und las wie immer als Erstes die Todesanzeigen. Das hatten ihre Eltern und auch ihre Großeltern schon so gemacht, und sie hatten immer laut vorgelesen, wer wie alt geworden war.
»Die dreißiger Jahrgänge werden immer weniger«, pflegte ihr Großvater zu sagen. Charlotte konnte sich noch gut an diesen Satz erinnern. Als ihr Opa schließlich nach langer, schwerer Krankheit im Alter von nur dreiundsechzig Jahren gestorben war, war er der einzige Dreißiger-Jahrgang in den Todesanzeigen gewesen. Heute war keiner dabei.
Charlotte blätterte den Regionalteil durch, überflog aber nur die Überschriften. Ein Verkehrsunfall mit zwei Schwerverletzten wurde gemeldet, das Geburtshaus von Annette von Droste-Hülshoff sollte restauriert werden, und wieder mal trieb ein widerlicher Tierquäler sein Unwesen.
Kopfschüttelnd blätterte Charlotte weiter. Wie viele psychisch kranke Menschen heutzutage herumliefen …
2
»Seit der Sache mit Lizzie ist er total verstört«, sagte Katrin. Sie beobachtete Leo, der schweigsam und wie in sich gekehrt neben Ben im Sandkasten saß.
Tanja sah sie mit großen Augen an. »Lizzie?«
Katrin lächelte müde. »Entschuldige. Die Katze meines Vaters hieß so.«
Tanja nickte mitfühlend. Katrin hatte ihr schon von dem schrecklichen Vorfall erzählt und dass Leo seitdem Schwierigkeiten hatte einzuschlafen und unter Albträumen litt. Sie kannten sich zwar erst seit einer Woche, aber Katrin hatte im Grunde sofort Vertrauen gefasst zu Tanja, und es tat ihr gut, wenn sie sich den Kummer von der Seele reden konnte.
»Der arme Kerl«, sagte Tanja. »Wenn ich mir vorstelle, Ben hätte so etwas erlebt … Ich glaube, ich könnte für nichts garantieren. Ich würde diesen Widerling auf eigene Faust suchen und ihm dermaßen eine verpassen, dass er nicht mal mehr seinen Namen aussprechen könnte!«
Katrin zuckte mit den Achseln. »Ich könnte so was nicht«, sagte sie resigniert. »Die Polizei meint, es ist praktisch aussichtslos, den Kerl zu finden. Angeblich kommt es hier in dieser Gegend immer wieder zu Tierquälereien.«
»Schrecklich.« Tanja seufzte. »Wie hast du Leo denn die ganze Sache erklärt?«
»Ich habe ihm erzählt, das blutige Stück Fleisch kommt aus dem Müll. Irgendwer hat es einfach in den Garten geworfen. Lizzie ist wahrscheinlich nur weggelaufen und taucht bestimmt bald wieder auf. Ich bin dann schnell mit ihm nach Hause gefahren, obwohl ich meine Eltern eigentlich nicht allein lassen wollte«, sagte Katrin. »Meinem Vater hat die ganze Sache sehr zugesetzt. Er hat an der Katze gehangen. Zuerst dachte ich, er kriegt einen Herzinfarkt, so erschrocken war er.«
»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte Tanja. »Schlecht?« Sie räusperte sich. »Entschuldige. Ich meine natürlich, hoffentlich geht es ihm inzwischen besser.«
Katrin nickte. »Er muss aber immer noch ein Beruhigungsmittel nehmen.« Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich meinen Vater noch nie erlebt. Bisher war er immer gut gelaunt und munter. Ich mache mir große Sorgen um ihn«, sagte sie betrübt. »Was will man machen. Wenn man so alt ist wie wir, sind die eigenen Eltern nun mal nicht mehr die Jüngsten.«
Tanja nickte. »Und damit wachsen die Sorgen.« Sie sah Katrin fragend an. »Ist alles okay? Du siehst ganz schön blass aus.«
»Ja, alles okay«, sagte Katrin
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