Schattenfreundin
Bluse.
Niemand hatte die junge Frau vermisst. Niemand hatte gemerkt, wie sehr sie mit ihrem Leben haderte, mit ihrem Schicksal und mit ihrer Schuld. Nur sie, sie hatte es gemerkt, und sie hatte alles versucht, um ihre einzige Freundin zu retten.
Sie hatte es nicht geschafft.
Müde setzte sie sich an den Fuß des Baumes und betrachtete den Waldboden vor sich. Sie nahm ein bisschen Erde in die Hand und ließ sie gedankenverloren durch die Finger rieseln.
Plötzlich zuckte sie zusammen.
Kaum einen halben Meter von ihr entfernt blitzte etwas Weißes aus dem dunklen Waldboden hervor. Obwohl sie ahnte, was es war, stand sie auf und begann vorsichtig, es mit den Fingern auszugraben.
Kurz darauf hatte sie es in der Hand.
»Dich haben die Bullen nicht gefunden«, sagte sie leise. Sie ging zurück zum Baum und setzte sich wieder. Zärtlich strich sie über die glatte Rundung.
»Die Zeit ist reif. Ab heute wird er büßen.«
Es war schon nach drei, als Katrin den letzten Patienten verabschiedet hatte. Sie liebte ihren Beruf als Physiotherapeutin, aber die Arbeit strengte sie auch an. Die Übungen mit den Patienten waren oft kraftraubend. Sport brauchte Katrin nicht zu treiben. Dank ihres Jobs war sie kräftig und durchtrainiert.
Sie schaffte es nicht mehr, sich umzuziehen, und so stieg sie in ihrem weißen Trainingsanzug ins Auto. Bevor sie losfuhr, kämmte sie sich ihre schulterlangen blonden Haare und band sie zu einem neuen Zopf. Von ihrem Make-up war nicht viel übrig geblieben, wie sie mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte. Sie wischte die verschmierte Wimperntusche ab und nahm sich fest vor, dass nächste Mal wasserfeste Mascara zu kaufen.
Der Weg von der Praxis zum Kindergarten führte an ihrem alten Gymnasium vorbei. Nichts hatte sich verändert: Der große rote Backsteinbau wirkte immer noch so abweisend wie früher. Ein paar Teenager standen lustlos auf dem Schulhof herum, einige rauchten, die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt. Unwillkürlich sah sie sich selbst mit ihren Klassenkameraden auf dem Schulhof stehen. Ohne Handys, aber geraucht hatten sie damals auch, und selbst die Kleidung schien sich nicht groß verändert zu haben. Leggings hatte Katrin Ende der Achtzigerjahre jedenfalls auch getragen.
Ernüchterung machte sich in ihr breit. Nicht wegen der alten, unwiederbringlich vergangenen Zeiten, sondern weil sie wieder an dem Ort war, von dem sie unbedingt weggewollt hatte, und zwar für immer. Münster war zweifelsohne schön, nicht zu groß, trotzdem voller Leben, aber in ihrer Jugend hatte Katrin sich hier immer eingeengt gefühlt, die Beamtenstadt erschien ihr wahnsinnig spießig und kleinbürgerlich. Da ihre Familie schon seit Generationen in Münster wohnte, war sie beinahe stadtbekannt. Wie oft hatte sie sich damals nach ein bisschen Anonymität gesehnt … In Köln war es ganz anders gewesen. Der Umzug in die Großstadt war ihr vorgekommen wie ein Befreiungsschlag. Endlich konnte das behütete Einzelkind so leben, wie sie es wollte.
Seit sie selbst Leo hatte, konnte sie die übertriebene Fürsorge ihrer eigenen Mutter zwar besser nachvollziehen, aber manches war ihr auch heute noch unverständlich. So durfte Katrin als Teenager nie Röcke tragen, die oberhalb des Knies endeten. Immer hieß es, damit würde sie die Männer provozieren und womöglich in Gefahr geraten. Als wenn jeder Mann beim Anblick eines weiblichen Knies gleich zum Vergewaltiger würde! Und bis sie sechzehn war, durfte sie abends nicht ausgehen, sogar danach musste sie um Punkt zehn zu Hause sein. Manchmal hatte Katrin sich regelrecht eingesperrt gefühlt.
Nein, vieles aus ihrer Kindheit und Jugend verstand sie immer noch nicht. Warum musste die ganze Familie immer fertig angezogen am Frühstückstisch sitzen? Auch samstags und sonntags hatte ihre Mutter es nicht geduldet, wenn Katrin im Schlafanzug oder Bademantel zum Frühstück erschien. Für sie selbst gab es heute nichts Schöneres als einen langsamen Start ins Wochenende. Und das begann damit, dass Leo zu ihr und Thomas ins Bett kam, dort an seiner Milchflasche nuckelte, während sie beide den ersten Kaffee tranken.
Katrin fuhr am Exil vorbei, an der Diskothek, in der sie ab ihrem achtzehnten Geburtstag viele Nächte durchgetanzt hatte. Was wohl aus den Leuten von früher geworden war? Die meisten ihrer Schulfreunde waren ähnlich wie sie weggezogen, um zu studieren. Nur wenige waren in Münster geblieben. Kurz überlegte sie, ob sie Kontakt zu
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