Schattengefährte
schon wissen?
»Ich empfehle Euch, den Nachmittag zum Studium zu verwenden«, sagte er und blickte dabei zu den bunt schimmernden Fenstergläsern hinüber. »Es schont die Augen, bei Tageslicht zu lesen.«
»Danke für den Rat!«
Er verbeugte sich und legte schon die Hand auf den blanken Türknauf, der einen Löwen mit weit aufgerissenem Maul darstellte. Wie schade, dass die Bestie nur aus Kupfer und nicht lebendig war – dann hätte sie Ogyn jetzt in die Hand gebissen. So aber zog er ungehindert die schwere Pforte aus Eichenholz auf und ging davon. Voll Verachtung sah Alina ihm nach. Wie lächerlich er daherwatschelte – in seinem bunten Gewand, mit den dürren Beinen und den roten Schnabelschuhen hätte man ihn aus der Ferne für eine hochbeinige Ente halten können. Wenn Ogyn glaubte, sie würde den Nachmittag dieses traumhaft schönen Sommertages ausgerechnet in dieser stickigen Bücherkammer verbringen, dann hatte er sich gründlich geirrt. Sie überflog rasch den Anfang der Geschichte und stellte erleichtert fest, dass die Sage zwar in einer altertümlichen Sprache verfasst, aber dennoch nicht schwer zu verstehen war. Die Schrift war winzig klein und sehr gleichmäßig – vermutlich hatte Ogyn die Nacht über gesessen, um die Sage für sie abzuschreiben.
»Lesen kann man überall«, murmelte sie vergnügt und rollte das Blatt zusammen.
Eilig lief sie durch den schmalen Gang bis zu ihrem Schlafgemach, zog schwungvoll die Tür auf und wollte schon nach Bogen und Köcher greifen, die an einem Haken hingen, da erblicke sie den breiten Rücken und die weiße Haube ihrer Magd Macha.
»Na, Mädchen? Hat er dich endlich aus seinen Fängen gelassen?«, fragte Macha und richtete sich schnaufend auf, denn sie hatte Alinas Bett mit einem frischen Laken bezogen.
»Er hatte wohl genug von mir«, gab Alina unbekümmert zurück.
Schmunzelnd sah die alte Frau zu, wie das Mädchen die Jagdwaffen von der Wand nahm und im Fortgehen hastig einen Mantel überwarf, der zum Ausbürsten über einer Truhe lag. Sie wusste recht gut, was ihre junge Herrin vorhatte.
»Lass dich nicht erwischen, junge Windsbraut!«, murmelte Macha hinter ihr her. Dann trug sie die Kopfpolster zum offenen Fenster hinüber und klopfte sie so kräftig aus, dass die Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen einen wirbelnden Tanz vollführten.
Alina war an der Wendeltreppe stehen geblieben, um zu lauschen. Es waren keine Schritte zu hören, auch nicht das Schnaufen einer Magd oder das Klappern einer hölzernen Schwertscheide, die gegen die Stufen stieß. Nur das Gekeife ihrer Stiefmutter Nessa drang gedämpft aus dem ersten Stock hinauf – vermutlich zankte sie eine ihrer Frauen aus. Gut so, dann war sie beschäftigt – der Weg war frei.
Alina war schon fast unten in der Eingangshalle angelangt, als ihr ein Page entgegenkam. Es war Baldin, ein blonder, sommersprossiger Knabe, der im vergangenen Winter so rasch aufgeschossen war, dass man fürchten musste, er würde über seine eigenen langen Beine stolpern. Er schleppte einen mächtigen Korb mit allerlei Schüsseln und Kannen, denen ein köstlicher Geruch entströmte. Königin Nessa liebte es, gut und reichlich zu speisen, die Jäger mussten ihretwegen fast täglich ausreiten, um Hasen, Rehe und auch Wildschweine zu erlegen, denn mit Hühnerfleisch und Feldfrüchten konnte man die Herrin nicht zufriedenstellen.
Baldins große braune Augen bekamen einen seltsam starren Ausdruck, als Alina so plötzlich vor ihm erschien, und sein Gesicht färbte sich erdbeerrot. Mit einer ungeschickten Bewegung versuchte er, eine Verbeugung zu bewerkstelligen, und wäre dabei fast mitsamt seiner Last rücklings die Stufen hinabgefallen.
»Das duftet aber gut aus deinem Korb«, bemerkte Alina lächelnd.
»Es ist für die Burgherrin«, gab er bekümmert zurück. »Aber wenn Ihr befehlt, Alina, dann laufe ich gleich hinunter in die Küche und …«
»Nein, lass das. Ich habe einen anderen Auftrag für dich, Baldin.«
Mit verschwörerischem Lächeln trat sie auf ihn zu und fasste eines seiner hochroten, abstehenden Ohren. Ach du liebe Zeit – wie er jetzt zitterte, der arme Junge.
»Sag der Burgherrin kein Wort davon, dass du mich gesehen hast«, flüsterte sie, den Mund dicht an seinem Ohr. »Hast du mich verstanden, Baldin?«
»Ja, Herrin …«, hauchte er. »Ich werde schweigen wie das steinerne Meer und der tote Berg.«
»Gut so!«
Sie lachte fröhlich und ließ sein Ohr los, gab ihm noch einen
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