Schattengefährte
Kapitel 1
Gleißend lag die Mittagssonne auf den Fenstern des Burggemachs, ließ die kleinen, bleigefassten Scheiben leuchten und warf bunte Schattenmuster auf den Steinfußboden. Hinter den Fenstern zitterten die herzförmigen Blätter der Linde im Wind, aus dem Hof unten konnte man die ungestümen Rufe der Knappen hören, die mit Holzschwertern den Kampf übten.
»Langweilt Ihr Euch?«
Ogyns Stimme klang leise, fast freundlich, doch die Ironie darin war nicht zu überhören.
»N… nein. Überhaupt nicht …«
»Das täte mir auch sehr leid, denn ich bemühe mich nach Kräften, Eure Aufmerksamkeit zu fesseln, junge Herrin. Allerdings bin ich nicht mehr zwanzig und kann wohl kaum mit den jungen Bürschlein dort unten mithalten.«
Alina lächelte gezwungen und drehte sich auf ihrem Hocker so, dass sie die verlockende Farbenpracht der Glasfenster nicht mehr im Blick hatte. Sie mochte diesen Menschen nicht, den ihr Vater vor einigen Monaten zu ihrem Erzieher bestimmt hatte. Ogyn hatte nicht nur eine perfide Art, sich über sie lustig zu machen, er wollte ihr auch Dinge einreden, gegen die sich alles in ihr sträubte.
»Kehren wir also zur Wissenschaft zurück«, meinte er mit herablassendem Lächeln.
Das, was er »Wissenschaft« nannte, war der Unsinn, der in den dicken Folianten stand, mit denen Regale und Truhen der Studierstube vollgestopft waren. Ogyn bewachte diese Schätze eifersüchtig, niemals hatte Alina in eines dieser staubigen, vergilbten Bücher hineinschauen dürfen. Sie legte auch keinen Wert darauf, denn was Ogyn ihr daraus abschrieb, war schon langweilig genug.
»Das Reich Eures Vaters ist ein fruchtbares Land, voller Täler und Hügel, Wiesen und Wälder. Glücklich die Menschen, die hier leben dürfen, denn rings um das Hügelland gibt es nur trostlose Ödnis. Nennt mir die menschenfeindlichen Landschaften, die das Reich Eures Vaters begrenzen.«
Alina schob eine widerspenstige Locke hinter das rechte Ohr und leierte herunter, was sie schon seit Jahren wusste. Im Norden endete das Reich ihres Vaters am wandernden Strom, der hieß so, weil er sumpfig war und manchmal seinen Lauf veränderte. Im Osten gab es den gläsernen Fluss, der war fast das ganze Jahr über von dickem Eis bedeckt, nur im Sommer brach es manchmal auf, und die weißen, durchsichtigen Schollen trieben auf dem schwarzen Wasser dahin. Im Süden dehnte sich das Hügelland bis zum roten Gebirge, dort fand man das Eisen, aus dem die Schwerter und Töpfe geschmiedet wurden.
»Und welches Gewässer begrenzt das Land nach Westen hin?«, wollte Ogyn hinterhältig wissen.
Oh, wie sie ihn hasste. Diesen dicklichen Kerl mit der schweißglänzenden, rosigen Glatze und der weichen Stumpfnase. Der graue Haarkranz, der seinen Schädel umgab, war struppig wie eine von Machas alten Waschbürsten, und an seinem scheußlich zerrupften Bart hing noch der Gerstenbrei, den er zum Morgenmahl gelöffelt hatte.
»Im Westen liegt das steinerne Meer. Aber das ist kein Gewässer, sondern nur eine Ansammlung von Felsbrocken und Geröll.«
»Sehr gut!«, lobte Ogyn scheinheilig und ließ sich schnaufend auf einer gepolsterten Bank nieder. »Dort liegt Stein an Stein bis an den Horizont, weder Baum noch Strauch können dort wurzeln, nicht einmal Moos bewächst die Felsbrocken, denn es regnet dort nie.«
Ein Rotkehlchen sang aus voller Kehle in den Zweigen der Linde, und Alina hätte viel darum gegeben, jetzt hinausreiten zu dürfen, über die Wiesen zu den alten Mauerresten, wo es Haselsträucher und auch Weiden gab, denn unweit der Ruine entsprang eine Quelle. Doch wie es aussah, würde sie es noch eine ganze Weile hier in dieser muffigen Kammer aushalten müssen.
»Im Reich Eures Vaters, des Königs Angus, gibt es alles, was zum Leben notwendig ist. Nahrung im Überfluss, Kleidung, Gerätschaften und Kleinodien jeglicher Art. Zahlreiche Krieger stehen bereit, das Land zu verteidigen, und trutzige Burgen beschützen es. Sagt mir, welche Burgen das sind.«
Warum fragte er eigentlich jedes Mal das gleiche? Hatte er Sorge, sie könnte es vergessen haben? Es gab eine Burg am gläsernen Fluss und eine im Süden, am roten Gebirge. Im Norden jedoch, zum wandernden Strom hin, standen zwei Burgen, eine so düster und hässlich wie die andere, denn hinter diesem breiten Strom begann das Reich der Wolfskrieger. Nach Westen, zum Steinernen Meer hin, hatte man gar keine Burg errichtet.
»Was ist hinter dem Steinernen Meer?«, wollte sie wissen.
Ogyn zog die
Weitere Kostenlose Bücher