Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es schlug so hart, dass Simon schon befürchtete, es könnte in seinem Inneren zerplatzen. Unbändige Wut wühlte ihn auf. Eine Wut – nein, ein Hass – beinahe greifbar.
Ein Hass auf sich und auf den Magier. Doch vor allem quälte Simon diese Ohnmacht.
Hier kniete er am Strand, hilflos und zurückgelassen.
Und nur er kannte die Wahrheit. Die fürchterliche Wahrheit um Leben und Tod und um eine Falle, in die seine Freunde und sein Vater in diesem Augenblick geradewegs hineinsegelten.
Er war außerstande, sich jemandem mitzuteilen. Er war unfähig, sie alle zu warnen.
Er war hier. Verzweifelt. Erschöpft. Und vor allem: völlig machtlos.
Noch immer flossen ihm Tränen heiß über das Gesicht.
Und noch immer … noch immer spürte er diese sanfte Berührung auf seiner Schulter.
Er wandte den Kopf und blickte seiner Mutter ins Gesicht. Auch ihr rannen Tränen über die Wangen. Auch ihr war die Ohnmacht anzusehen. Die Hilflosigkeit. Die Verwirrung einer Frau, die sich nicht mehr auskannte in ihrer eigenen Welt. Deren Mann und deren Sohn in ein Geheimnis verwoben waren, von dem sie bisher nichts gewusst hatte. Die einer Gefahr ausgesetzt waren, von der Jessica nichts hatte ahnen können.
»Möchtest du reden?«
Die Liebe, die aus ihrer Stimme in diesen drei Worten herausklang, ließ Simon innerlich ruhiger werden, und er nickte.
Sie beugte sich vor, nahm ihn fest in den Arm, und es waren abermals drei Worte, die endgültig den Hass aus seinem Herzenverdrängten. Wenn auch nur für diesen einen Moment: »Das ist gut«, flüsterte sie, während sie ihm auf die Beine half und ihn den steilen Weg hinaufbegleitete, vom Strand, an dem Bootshaus vorbei zu ihrem Haus. Sie ging dicht an seiner Seite.
Simons Blick fiel auf die Rotkopf-Klippe, deren Spitze weit über den Strand hinausragte und in deren Innerem sich eine Höhle befand, von der Simon bisher nichts gewusst hatte – die vielleicht niemand in der Stadt kannte – und in der doch alles seinen Ursprung genommen hatte, was jetzt sein Leben bedrohte.
Schnell wandte er den Blick wieder ab. Wortlos ließ er sich von seiner Mutter weiter zum Haus führen, zur Tür hinein und in die Küche, wo er am Tisch Platz nahm. Sie stellte ihm ein Glas Saft auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Sie schwieg immer noch, doch ihre Blicke sprachen Bände. Sie wollte Antworten. Jetzt. Hier. Doch sie drängte ihn nicht, und Simon war ihr dankbar dafür.
Er nahm das Glas in die Hand, und obwohl er keinen Durst verspürte, setzte er es an. Nur um Zeit zu gewinnen.
Wie sollte er anfangen? Das, was er ihr zu berichten hatte, war so unglaublich und so verworren.
Er trank einen Schluck, stellte das Glas ab und sagte: »Es waren Flammen. Flammen auf Mastspitzen, mit denen alles begann.« Sein Blick schweifte aus dem Fenster zu der riesigen Kastanie im Garten hinter dem Haus. Doch er sah keine Äste oder Zweige und auch nicht den kleinen Vogel, der so vorwitzig auf einer Astspitze saß und zu ihnen hereinschaute. Er blickte auf das Schiff, das ihm inzwischen so viel bedeutete: der Seelensammler. Er sah die beiden Masten mit ihren Fackeln obenauf.Und auch die Bugfigur, den riesigen Krähenkopf. Alles erschien so realistisch vor seinem inneren Auge, als stünde er jetzt gerade davor. Wie einst, als er das Schiff in seinen Träumen gesehen hatte. Damals, als dies alles hier seinen Anfang genommen hatte.
Er sah sich selbst, wie er in der ersten Nacht in seinem Boot zu dem Schiff gerudert war. Er sah sich die Strickleiter hinaufklettern und das Deck betreten.
Und während diese Bilder in seiner Erinnerung entstanden, begann er zu reden. Die Worte flossen nur so aus ihm heraus. Er schilderte seiner Mutter alles so genau, wie es ihm nur möglich war, und das Gefühl, jetzt tatsächlich an Deck des Schiffes zu sein, verstärkte sich.
Mit Wehmut sah er die Zeitenkrieger, seine Freunde, wie sie ihm überrascht entgegengeblickt hatten, in jener ersten Nacht. Und noch einmal verspürte er den Schlag gegen das Schiff. Es war ihm, als neige sich der Seelensammler in diesem Moment weit zur Seite, gerade so, wie er es immer tat, kurz bevor sein Erbauer erschien.
Der Magier – der Schattengreifer.
Dies war der einzige Moment, in dem Simons Mutter kurz aufschreckte. Der Name des Magiers ließ sie erschauern. Doch sie fragte nicht nach. Sie ließ Simon weitersprechen, versuchte zu verstehen, was er ihr sagte. Versuchte dagegen anzukämpfen, dass dies
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