Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
1. Kapitel
Die vier Morton-Frauen schrien Letitia ihre Gesänge in die Ohren und bespritzten sie mit einer übelriechenden Flüssigkeit. Immer noch läutete die Totenglocke. Sie verstummte erst, als die Kutsche in einer Gasse in Stornoway hielt. Letitia musste aussteigen. Ihre Hände blieben auf dem Rücken gefesselt. Man führte sie ins Haus. Die kleinen Fenster ließen nur wenig Licht durch.
Ann und die anderen brachten Letitia zu einer Kammer, aus der stetiges Schluchzen ertönte. Angus lag aufgebahrt da, die Fäuste auf der Brust. Er trug ein schwarzes Leichenhemd, sein Gesicht war verzerrt. Er musste unter großen Schmerzen gestorben sein. Letitia erschrak bei seinem Anblick. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie vergaß ihren schmerzenden Fuß und die eigene Not und Gefahr.
Angus war auf gemeine, furchtbare Weise umgebracht worden, nur weil er sie zu warnen versucht hatte. Die Bosheit der Teufelsanbeter kannte keine Grenzen. Von dieser Minute an hasste Letitia ihre Verwandten…
*
»Geh nicht nach Stornoway, Tochter, denn dort lauert das Böse. Ich habe dir nie von deinen Verwandten erzählt, die alle Zauberer und Hexen sind, und die den Teufel anbeten. Ich bin von dort weggegangen, weil ich ihre Niedertracht nicht mehr länger ertragen konnte. Aber jetzt… haben sie mich doch gefunden… und…«
Letitia Cabell saß am Krankenbett ihrer Mutter. Die Sterbende hatte sich aufgesetzt. Ihr grauschwarzes Haar stand wirr vom Kopf ab. In dem ausgemergelten Gesicht, das die Krankheit gezeichnet hatte, waren die Augen weit aufgerissen.
Sie schienen Dinge zu sehen, deren Anblick normalen Sterblichen verwehrt war. Letitia versuchte, die Mutter zurückzudrücken. Aber Mary Cabell brachte die Kraft einer gespannten Stahlfeder auf.
Es war drei Uhr morgens. Letitia hatte die Nacht in dem Einzelzimmer auf der Station für Innere Medizin im Londoner St. Paul's Hospital durchgewacht. Vor wenigen Minuten war ihre Mutter noch einmal erwacht, nachdem Letitia schon geglaubt hatte, sie würde in die Ewigkeit hinüberschlafen und nie wieder die Augen öffnen.
»Mutter, bitte, beruhige dich doch!«, bat Letitia. »Spar deine Kraft. Was redest du da?«
Die ausgemergelte Frau bebte. Marys Haut spannte sich gelblich und straff über den Knochen ihres Gesichts. Es glich schon einem Totenschädel. Dabei war Mary erst 45 Jahre alt. Doch sie wirkte älter. Ein hartes Leben hatte sie mitgenommen.
Jetzt lächelte sie. Das Entsetzen wich für einen Moment aus ihren Augen, als sie sich Letitia zuwandte.
»Meine Kleine«, sagte sie zärtlich, als ob Letitia erst fünf und keine zwanzig Jahre alt sei. Sie fuhr der Tochter über das Haar. »Ich muss dich jetzt allein lassen. Ich gehe durch das dunkle Tor, das alle Menschen einmal durchschreiten müssen. Lebe immer so, dass du dir selbst in die Augen sehen kannst. Mehr will ich dir nicht sagen. Und dass du Stornoway und seiner Brut fernbleiben sollst.«
Letitia runzelte die Stirn.
»Wo ist dieses Stornoway? Ich habe noch nie davon gehört.«
»Es ist ein Ort auf den Hebriden. Dort komme ich her. Dort lebt meine Familie. Sie sind alle böse.«
Letitia schüttelte den Kopf. Die Augen der Sterbenden verschleierten sich. Sie sackte zurück, murmelte vor sich hin und bewegte unruhig die Hände auf der Bettdecke. Mary Cabells Finger waren fast nur noch Knochen. Die Ärzte hatten Letitia gesagt, dass ihre Mutter die Nacht nicht überleben würde.
»Ich dachte, du stammst aus Nordschottland, Mutter.«
Mary Cabell hörte die Worte ihrer Tochter nicht mehr. Sie starrte gegen die Decke. Letitia verstand nur wenige Worte ihres Gemurmels. Sie machten ihr Angst.
»Satan«, hörte sie. Und: »Hexensabbat. Bei Vollmond soll es geschehen. Helen, du altes Scheusal, verflucht sollst du sein. Verdammt sei deine schwarze Seele. Endlich zur Hölle. Die Menschen lange genug heimgesucht. Der Schatten! Da kommt der Schatten.«
Das Zimmer war karg eingerichtet. Hierher brachte man die Sterbenden, für die es keine Hoffnung mehr gab. Das Sterbezimmer enthielt nur das Krankenbett, einen Schrank, einen Nachttisch, ein Waschbecken und ein schmuckloses Holzkreuz an der Wand. Die vergilbten Vorhänge waren zugezogen. Vor ihnen lauerte die Nacht.
Eine Lampe hing von der Decke. Ihr Licht warf Letitias Schatten und den des Betts mit der Sterbenden verzerrt und übergroß an die Wand. Auf dem Krankenhauskorridor draußen herrschte Stille.
Es gab hier nicht mal eine Klingel, mit der man die
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