Schattenkampf
bin heute beim Mittagessen zufällig Wes Farrell begegnet.« Das war einer von Hardys Sozii. »Er meinte, in Ihrer Kanzlei wäre die Auftragslage gerade nicht so üppig. Sie könnten also wahrscheinlich mit ein paar Prozenten rechnen, wenn Mister Bowens Mandanten zu Ihrer Sozietät wechseln. Nicht, dass Sie einer von ihnen reich machen wird.«
Zwischen den Zeilen sagte der Richter damit nichts anderes, als dass es uninteressanter Routinekram war. Wahrscheinlich war Charlie die Mehrzahl seiner Mandanten vom Gericht zugeteilt worden, Bedürftige, die wegen geringfügiger Straftaten und Vergehen angeklagt waren. Trotzdem würde das Gericht für jede Stunde zahlen, die Hardys Sozii für die Strafsachen aufbrachten, und wenn bei den Zivilsachen finanziell etwas heraussprang, konnte die Kanzlei mit einer angemessenen Entschädigung rechnen. Und nicht zuletzt war es eine Gelegenheit, einem Richter etwas Gutes zu tun, denn das konnte nie schaden.
»Wahrscheinlich könnten Sie sie in den nächsten zwei Monaten alle entweder an einen Kollegen abtreten oder zum Abschluss bringen.«
»Keine weitere Überzeugungsarbeit nötig, Euer Ehren. Ich helfe Ihnen gerne aus.«
»Danke, Diz. Ich weiß das sehr zu schätzen. Und mir ist auch bewusst, dass das alles nicht gerade prickelnd ist. Ich lasse Ihnen alles im Lauf der Woche in Ihre Kanzlei bringen.«
»Ist es viel Papierkram?«
Thomasino zögerte. »Ungefähr sechzig Schachteln.« Anders ausgedrückt, eine Menge. »Aber bevor Sie in Ohnmacht
fallen. Es ist nur halb so viel, wie es aussieht, weil die Hälfte der Akten einen einzigen Mandanten betrifft.«
»Doch nicht Microsoft?«
Ein leises Lachen. »Da muss ich Sie leider enttäuschen. Evan Scholler.«
Hardy überlegte kurz. »Warum kommt mir der Name bekannt vor?«
»Weil Sie sicher alles über den Fall gelesen haben. Diese zwei Typen, die zusammen im Irak waren?«
»Ah, jetzt kommt es mir wieder«, sagte Hardy. »Sie hatten auch dieselbe Freundin oder so was, oder nicht?«
»Ich glaube schon. Zum Teil ganz schön starker Tobak, aber das werden Sie noch früh genug selbst feststellen. Aber wie dem auch sei, Diz, vielen, vielen Dank, dass Sie das machen.«
»Was gäbe es Schöneres, als dem Gericht dienen zu können, Euer Ehren.«
»Sie haben sowieso schon einen schweren Stein im Brett, Counsellor. Tragen Sie also nicht zu dick auf. Einen schönen Abend noch.«
Hardy legte auf und stand kurz nachdenklich da. Eine Wendung des Richters ging ihm nicht aus dem Kopf: Die Strafsache Scholler war »zum Teil ganz schön starker Tobak«. Hardy fand, er konnte jetzt etwas Dramatik in seinem Leben vertragen. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, was sie nie tat, war der Fall Scholler sogar noch spannender als die nackten Tatsachen des Mordfalls, denn seinen Ursprung hatte das Ganze in Chaos und Gewalt.
Im Irak.
Teil Eins
2003
1
Im Westen küsste eine flammend orange Sonne den Horizont, als 2nd Lieutenant Evan Scholler, 26, an der Spitze seines Trios aus umgebauten Guntruck-Geleit-Humvees durch das Tor des Allstrong-Geländes fuhr, das inmitten von Palmen, Bewässerungskanälen und grünem Weideland lag. Das war schon einmal etwas anderes als die sandige, flache, braune Öde, in der Evan seit seiner Ankunft in Kuwait unterwegs war. Das Areal hatte etwa die Größe von drei Footballfeldern und war wie jedes andere »sichere« Gelände mit Bremer Walls befestigt - dreieinhalb Meter hohe Betonbarrieren mit Stacheldraht obendrauf. Vor ihm standen drei doppelt breite Wohnmobil-Auflieger, die Allstrong Security, ein amerikanisches Sicherheitsunternehmen, für seine Mitarbeiter vor Ort aufgestellt hatte.
Evan hielt vor der mittleren dieser provisorischen Unterkünfte, über der eine amerikanische Flagge wehte, und stieg aus seinem Fahrzeug auf die Kiesfläche, die sich in alle Richtungen erstreckte, so weit er sehen konnte. Ein durchtrainierter amerikanischer Army-Typ, der in der offenen Tür gestanden hatte, kam mit ausgestreckter Hand die drei Eingangsstufen herunter. Evan salutierte, und der Mann lachte.
»Bei mir brauchen Sie nicht zu salutieren, Lieutenant«,
sagte er. »Jack Allstrong. Willkommen am BIAP. Sie sind wohl Scholler.«
»Jawohl, Sir. Dass Sie mit meinem Auftauchen rechnen, ist schon mal eine erfreuliche Abwechslung.«
»Dann hat man Sie wohl ordentlich in der Gegend rumgeschickt, wie?«
»So könnte man es nennen. Ich habe acht Mann dabei und Colonel … Entschuldigung, aber wer führt hier das
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