Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
das warme Wasser über ihre Hände, sie drehte die Unterarme nach oben und lehnte den Kopf an den Schrank über dem Spülbecken.
»Lass ihn laufen, Henrik. Er wird ja nicht von der Erdoberfläche verschwinden. Binde Jack an der Garage an. Am besten unter dem Vordach. Ich komme gleich. Geh du nur.«
Wütende Schritte hinter ihrem Rücken, Türenknallen, zuerst die Küchentür, dann, gedämpfter, die Haustür. Das Geräusch von Henrik, der sich zögernd wieder hinsetzte. Inger Johanne schloss die Augen und merkte, wie ihre Gedanken davonglitten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein. Der Schmerz im Kreuz wollte nicht aufhören, und ein unbehaglicher Druck im Zwerchfell ließ sie den Wasserhahn auf kalt stellen und die Schranktür öffnen, um sich ein Glas zu nehmen.
Ein Gedanke ließ sie mitten in der Bewegung erstarren.
Viel zu lange hatte sie nicht einsehen wollen, dass Jon seinen Sohn misshandelt haben konnte, trotz ihrer Ausbildung, Erfahrung und Einsicht hatte sie sich verhalten wie alle anderen. Es nicht sehen wollen. Nicht glauben wollen. Das tun wir doch alle, dachte sie und schloss die Hand um ein Glas aus dem Fach über dem Kühlschrank. So wie sie es jetzt fast wieder getan hätte, ging es ihr endlich auf, und sie wurde schamrot.
»Was hast du gesagt, Jon?«
»Was?«
Sie sah ihn nicht an. Noch immer krümmte ihre rechte Hand sich um das Glas. Das Wasser lief in einem nervtötenden gleichmäßigen Rauschen.
»Was hast du gesagt, als du Ellens Glas weggeschoben hast?«
»Er passt auf«, sagte Ellen mit jämmerlicher Stimme. »Und er hat Sander nicht umgebracht.«
Jon passt auf.
Endlich konnte sie das Glas nehmen. Sie füllte es bis an den Rand mit eiskaltem Wasser und ging, so ruhig sie konnte, zur Tür.
Sie drehte sich um und sah sie an.
Die drei, die von der Familie Mohr noch übrig waren.
Helga, grau und verkniffen und entsetzlich alt. Ellen mit ihren feuchten Augen und schmalen, unruhigen Händen, sie konnten an nichts herumspielen, jetzt, wo ihr das Glas genommen worden war. Neben ihr saß Jon, ein Schatten seines früheren Selbst, von damals, als er noch keine dreißig gewesen war und eine Karriere und die Trophäenfrau hatte, die alle begehrten.
Nur Kinder hatte er nicht gehabt.
Jon passt auf. Er hat nicht aufgepasst.
So hatte der Vorwurf gelautet, vor genau zwei Wochen, nur wenige Stunden früher. Ellen beschuldigte Jon, nicht aufgepasst zu haben. Jon hasste sich aus demselben Grund. Inger Johanne hörte die Stimmen der beiden. Als ob alles in ihrem Kopf auf Band aufgenommen wäre und wieder abgespielt werden könnte, immer wieder.
Du hast nicht aufgepasst, jammerte Ellen. Ich habe nicht aufgepasst, weinte Jon.
Inger Johanne lehnte sich an die Wand und trank. Sie hatten nicht darüber gesprochen, dass sie auf Sander hätten aufpassen müssen, wie Inger Johanne gedacht hatte. Es war um Ellen gegangen. Es war Ellen, auf die Jon nicht aufgepasst hatte, es war Ellen, der er immer wieder versicherte, dass er die Verantwortung trug, wie vorhin, als er das Glas weggeschoben hatte, mit genau demselben Satz: Ich passe auf.
Aber er hatte nicht aufgepasst, als Ellen ihren Sohn getötet hatte.
Und auch nicht, wenn sie ihn misshandelt hatte.
Jon war nicht mit Sander zum Arzt gegangen, um sich selbst zu schützen. Er begleitete ihn, um Ellen vor den Konsequenzen ihrer Tat zu beschützen. Sander war am Tag nach der Gehirnerschütterung nicht deshalb von seinem Vater in die Schule gebracht worden, weil dem Vater die Verletzung egal war. Jon versuchte, Sander zu beschützen. Deshalb wollte er nachmittags und abends immer zu Hause sein, auch wenn er arbeiten musste, auch wenn Joachim dabei war.
Jon Mohr hatte in all den Jahren versucht, Sander vor seiner Mama zu beschützen und Ellen vor der Entdeckung. Jon hatte sich an seine kleine Familie geklammert, eine Familie, aufgebaut auf Lügen, die sich immer weiter vermehrten, bis es so viele Unwahrheiten waren, dass Ellen und Jon sich darin verirrten.
»Du hast Sander umgebracht«, sagte Inger Johanne, so ruhig sie konnte, als sie endlich Ellens Blick einfing.
Jon sprang auf.
»Es war ein Unfall«, rief er und fing an zu husten. »Ich habe doch ...«
»Ich war es nicht«, weinte Ellen. »Wie kannst du nur ... Inger Johanne! Es war Jon, er hat nicht aufgepasst, und es war ein Unfall, und er hat nicht aufgepasst! «
»Nein!«, schrie jetzt Helga, während Jon und Ellen beide laut weinten.
Henrik war
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