Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Freitagnachmittag mit ihm auch nur ein Wort gesprochen.
Henrik Holme öffnete die Flasche Cola light und trank einen großzügigen Schluck. Er hatte sich an einem Kiosk eine Tüte mit Schokoladenbrötchen gekauft. Zwei hatte er bereits verzehrt, das dritte sah unappetitlich flach gequetscht aus, als er es aus dem Rucksack zog. Die Schokolade, die teilweise geschmolzen war und am Papier klebte, erinnerte an etwas sehr Unschönes. Er musterte das klägliche Backwerk für einen Moment, dann presste er es zusammen und warf die Tüte in den leeren Papierkorb.
Der Aktendeckel des Ordners diente auch als Dokumentenliste.
Das passte alles nicht so ganz. Er hatte keinen Verdächtigen, den er dort eintragen könnte. Auch für die Rubrik Zur Anzeige gebrachter Sachverhalt hatte er nichts. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht? Es gab vielleicht eigene Mappen für Fälle wie diesen, für verdächtige Todesfälle, die nur von der Polizei registriert und dann als Kein strafbarer Sachverhalt abgehakt werden sollten.
Verdächtige Todesfälle war ohnehin nur eine Überschrift für vieles, das wusste er, und oft waren sie nicht einmal verdächtig. Überdosis. Selbstmord. Ertrinken. Solche Dinge. Vielleicht hatte er das falsche Formular ausgesucht.
Plötzlich wurde Henrik Holme sehr unsicher und fing an, tief in der Nase zu bohren.
Auf der Mappe gab es die Rubriken Personalien, Sachbearbeiter von der Staatsanwaltschaft und Ermittler . Außerdem freie Felder für Nummerierung und Beschreibung von einzelnen Dokumenten zu dem Fall, mit Datumsvermerk und Verfasser.
Dokument 00 war die Mappe selbst.
Dokument 01 war eine Vernehmung des »Zeugen Jon Mohr«, verfasst von Henrik Holme.
Und das war’s.
Bald würde er die Papiere von der Rechtsmedizin erhalten, hoffte er. Das würde dann immerhin ein Dokument 02 ergeben.
Ziemlich dünn, das Ganze.
Verwandte Fälle, hieß eine Rubrik weiter oben. Die Spalten waren leer.
Er könnte im Strasak nachsehen, dem polizeilichen Register für strafbare Fälle, und sei es nur zum Spaß. Es war ja nicht wahrscheinlich, dass der Mann mit der riesigen Villa in Grefsen und den zwei Autos in der Garage noch andere Straffälle am Laufen hatte.
Rasch loggte er sich im Strasak ein und gab Jon Mohrs Namen und sein Geburtsdatum an.
Jon Mohr war registriert als Verdächtiger in einer laufenden Ermittlung, las er und schluckte so laut, dass er es selbst hörte.
Verdacht auf Verstoß gegen WpHG § 3-3, vgl. §§ 2-2 und 17-3, 1. Abs. WpHG? Wertpapierhandelsgesetz, natürlich, dachte er.
Henrik Holme prägte sich die Paragrafen ein und klickte sich blitzschnell aus dem STRASAK hinüber zu den Gesetzen. Seine Augen huschten über den Text, bis er das Gesuchte fand, dann lehnte er sich triumphierend zurück.
Insiderhandel!
Jon Mohr war ein Verbrecher. Ein Schurke, gegen den ermittelt wurde, weil er sich auf kriminelle Weise Geld angeeignet hatte. Zwar sagte das STRASAK nichts darüber, wie weit die Ermittlungen gediehen waren oder worum es überhaupt ging, aber Henrik Holme wusste genug über Insiderhandel, um zu begreifen, dass jemand in Jon Mohrs Stellung immer über Informationen verfügen würde, die an der Börse einen erklecklichen Ertrag einbringen könnten. Vor einigen Jahren hatte es einen ähnlichen Fall gegeben, fiel ihm jetzt ein, mit einem Mann aus einem PR-Büro. Der Mann war verurteilt worden, weil er einem Kumpel Firmengeheimnisse zugespielt und dieser dann Aktien gekauft und später ordentlich daran verdient hatte, nicht ohne dem PR-Mann mit einem hübschen Sümmchen zu danken.
Zwischen Wirtschaftskriminalität und Kindermord bestand nicht unbedingt ein Zusammenhang, gab Henrik Holme widerwillig zu. Andererseits konnte diese Insidergeschichte Jon Mohr gereizt, nervös und ungeduldig gemacht haben. Das hatte er am Vorabend ja nachdrücklich unter Beweis gestellt. Er ging doch sofort hoch. Dass ein Junge von acht Jahren eine Prüfung sein konnte, wusste Henrik Holme nur zu gut. Er hatte einen Cousin in diesem Alter. Manchmal würde er den Bengel am liebsten an die Wand hängen und festnageln.
Der dünne Hefter auf dem Schreibtisch wirkte plötzlich ein wenig interessanter.
Vielleicht enthielt er ja doch einen Fall.
Und dann wäre es ein großer Fall, einer, in dem es um Mord und Tod ging. Und es war sein Fall, Henrik Holmes Fall, er allein ermittelte.
Er leerte seine Flasche auf einen Zug und schluckte einen Rülpser hinunter.
Zuerst wollte er einen Bericht schreiben. Das
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