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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Jahren ihre Haare als ihren größten Aktivposten verbuchen konnte. Neben dem schlanken Körper natürlich, dem durchtrainierten sehnigen Körper, auf den sie so stolz war, auch wenn die Brüste durch das Training ebenso verschwunden waren wie der einst so knackige Hintern.
    Er stöhnte, als er die Füße auf den Boden stellte.
    Barfuß und nackt schlurfte er aus dem Schlafzimmer. Im Bad leerte er seine Blase und musterte sich dabei in dem großen, in die Wand eingelassenen Spiegel. Er hatte kein Licht gemacht, und im Morgengrauen, das durch die mit Sandstrahl behandelten Fenster noch matter wirkte, sah er aus wie ein Wiedergänger. Trotz des vierzehntägigen Urlaubs in Italien vor erst zwei Wochen wirkte seine Haut bleich, fast bläulich. Sein Gesicht war verhärmt, die Augen blutunterlaufen, und er schnitt für sein eigenes Spiegelbild eine Grimasse.
    Ohne nachzudenken, hob er die Faust. Er sah sie einen Moment an, im Spiegel, mit schrägem Blick, dann stieß er sie mit aller Kraft in die zwei Quadratmeter große Glasfläche. Der Spiegel zersprang fast geräuschlos. Die Scherben klebten fest an der Wand, aber dort, wo seine Hand aufgeschlagen war, breitete sich ein gezackter Stern aus. »Sander«, formte Jon lautlos mit den Lippen. »Sander.«
    Von seiner Hand lief Blut herab.
    Er griff nach dem Toilettenpapier und wickelte es um die Wunde. Es blutete so heftig, dass er fast die halbe Rolle verbrauchte, ehe er wagte, das Blut von Waschbecken und Boden zu wischen.
    Das Schlimmste war eigentlich nicht seine schreckliche Angst.
    Das Schlimmste war die Einsamkeit.
    Nackt, bis auf das Klopapier um die rechte Hand, ging er hinaus auf den Gang, vorbei an den vielen Schränken mit der teuren Damenkleidung, in die Diele und dann, ohne zu zögern, in Sanders Zimmer.
    Jemand hatte vergessen, die Nachttischlampe auszuschalten. Das goldene Licht ließ ihn die Tür hinter sich schließen. Dort in dem halb leeren Zimmer mit Sanders in Kartons und Dosen sortierten Sachen, während die blauen Vorhänge mit den Rennwagen sich vor dem einen Spaltbreit geöffneten Fenster bewegten, hatte er für einen Moment das Gefühl, alles könnte noch gut werden. Er hätte nur geträumt. Er könnte die Zeit zurückdrehen, einige Monate oder Jahre, einige Wochen, vielleicht nur einige Tage, und noch einmal von vorn anfangen.
    Vorsichtig legte er sich auf das Bett und zog die nackte Decke über sich.
    Das Blut war jetzt durch das Klopapier gesickert. Er riss das Papier ab und umschloss die Wunde mit dem Mund, bis der widerliche Eisengeschmack seine Zunge taub machte. Noch immer blutete die Hand, gleichmäßig und tropfend, und er gab auf. Verkroch sich unter der kalten Decke und schloss die Augen.
    Er könnte Ellen wecken, dachte er, sie mit einer Tasse Kaffee vorsichtig aus dem Tablettenschlaf holen, er könnte sie wachlieben und ihr alles erzählen. Sie könnten das Geheimnis teilen, wie sie alle Geheimnisse teilten, immer. Zwischen ihnen gab es noch immer Liebe, jedenfalls Ablagerungen von alldem, was sie verbunden hatte, als er sie denen, die glaubten, sie eher zu verdienen, vor der Nase weggeschnappt hatte. Er verdiente sie noch immer. Er brauchte sie, und sie brauchte ihn. So war es einfach, und so war es immer gewesen.
    Es ist zu spät, dachte er dann und richtete sich auf.
    Er zog den Farbeimer unter dem Bett hervor. Der Pinsel stand in einem abgeschnittenen Milchkarton im Wasser, unten in einem der leeren Schränke. Mit den Fingern presste er die Flüssigkeit aus den Schweineborsten und tunkte den Pinsel in die weiße Farbe. Er hätte eine Rolle nehmen müssen, aber er hatte keine. Es war auch egal. Mit wütenden Pinselstrichen malte Jon Mohr die Decke an, mit der linken Hand, während er immer wieder Blut von der rechten leckte, und tilgte die letzten Spuren der Malereien seines Sohnes.
    Es ist nie zu spät, dachte er, als alles weiß war und er selbst am ganzen Leib mit Farbe gefleckt. Es war nie zu spät, und Jon Mohr würde niemals aufgeben. Er war keiner, der aufgab. Er war der, der aufpasste.
    Das war er immer gewesen.
    Joachim Boyer hatte nicht geschlafen.
    Als er um halb ein Uhr nachts von Jon und Ellen nach Hause gekommen war, war er zu erregt gewesen. Nach einer halben Stunde auf dem Rudergerät und einer Stunde Yoga, gefolgt von einem warmen Bad, hatte er endlich die richtige Bettschwere. Aber der Schlaf wollte trotzdem nicht kommen. In seinem Hirn herrschte zu großes Chaos. Lange spielte er mit dem Gedanken, wieder

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