Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
anspruchslose Lächeln, ehe sie vorsichtig die Tür zuzog und ins Wohnzimmer zurückging, noch immer ein Glas mit klirrenden Eiswürfeln in der Hand.
»Mama«, flüsterte Inger Johanne unhörbar. »Komm zurück.«
Als es halb neun Uhr abends geworden war und das nagelneue Telefon schrillte, erkannte keine von ihnen das Klingelzeichen. Sogar Jack hob den Kopf von seinem festen Platz unter dem Couchtisch und spitzte neugierig die Ohren. Erst nach vier Klingeltönen begriff Inger Johanne, dass jemand versuchte, sie zu erreichen. Der Mann im Telefonladen hatte ihre Telefonliste nicht in das neue Android überführt, und sie erkannte die Nummer nicht.
»Hallo«, sagte sie vorsichtig.
»Du musst kommen«, weinte eine Frauenstimme.
»Hallo«, sagte Inger Johanne noch einmal. »Mit wem spreche ich?«
»Ich bin’s«, schrie die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ellen! Du musst kommen, Inger Johanne. Die haben Jon verhaftet. Die waren hier und haben Jon verhaftet!«
Inger Johanne nahm das Telefon in die andere Hand.
»Du musst dich beruhigen«, sagte sie. »Ich verstehe rein gar nichts, wenn du nicht aufhörst zu schreien.«
Ein Schluchzen, dem ein heftiger Husten folgte, ging in gedämpftes Weinen über.
»Sie haben Jon festgenommen«, brachte Ellen mühsam heraus. »Ein Polizist war vor einigen Stunden hier und hat ihn festgenommen. Er ist bestimmt im Gefängnis, Inger Johanne. Jon, der doch nie ...«
»Er ist ganz bestimmt nicht im Gefängnis. Warum sollte ...«
»Sie glauben, dass er Sander umgebracht hat!«
»Natürlich glauben sie nicht, dass er ...«
»Doch! Der Polizist von gestern, dieser dünne hässliche Polizist von gestern, der war hier und hat einfach ...«
Der Rest ging in Schluchzern unter.
»Hör mal zu«, sagte Inger Johanne und hob die Hand zu einer beruhigenden Geste, als ob Ellen sie sehen könnte. »Jetzt beruhig dich erst mal. Ich komme gleich. Hörst du? In einer Viertelstunde bin ich da. Ist das in Ordnung?«
Noch immer war am anderen Ende der Leitung nur Weinen zu hören.
»Ist das in Ordnung, Ellen?«
Ihr Ton war jetzt schärfer.
»Ja. Schön. Danke.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Was in aller Welt war das denn?«, fragte die Mutter, die noch immer den Fernseher anstarrte, wo dieselben absurden Bilder eines Massenmörders immer wieder gezeigt wurden.
»Ellen. Sie war ziemlich hysterisch.«
»Kein Wunder. Ihren Jungen unter solchen Umständen zu verlieren, und das noch mitten in alldem ...«
Die Mutter hob die Hand in Richtung Fernseher.
»Da wäre doch jeder völlig aufgelöst.«
»Sie behauptet, Jon sei verhaftet worden.«
Endlich riss sich die Mutter vom Fernseher los und drehte sich zu Inger Johanne um.
»Verhaftet?«, fragte sie mit einem trockenen kleinen Lachen. »Das kann doch nicht sein! Erstens hat die Polizei schon genug zu tun und wird ihre Zeit nicht mit einem offenkundigen Unglücksfall verschwenden. Du hast doch selbst gesagt, dass dieser Sander ziemlich wild war. So ein ADFH-Junge, hast du gesagt.«
»ADHS«, sagte Inger Johanne.
»Außerdem kann der Obduktionsbericht unmöglich schon vorliegen. Nicht unter normalen Umständen und jetzt erst recht nicht.«
Wieder winkte sie mit der Hand in Richtung Fernseher.
»Wow«, murmelte Inger Johanne. »Was weißt du denn über Obduktionen?«
»Ich sehe auch fern, meine Liebe. Und zwar Krimiserien, etwas anderes gibt es ja nachts, wenn ich nicht schlafen kann, so gut wie nie.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, fast als ob sie für ein ungeheuerliches Geständnis um Verzeihung bitten wollte.
Inger Johanne musterte wortlos ihr Gesicht. Ihre Mutter war in kurzer Zeit deutlich gealtert. Obwohl sie weiterhin immer gepflegt war, gab sie sich nicht mehr solche Mühe, jederzeit als die tadellose Hausfrau zu erscheinen, die sie ihr ganzes erwachsenes Leben hindurch gewesen war. Sie schminkte sich nicht mehr so stark und eher ein wenig achtlos. Ihre Haare, die, so lange Inger Johanne sich erinnern konnte, jeden Freitag von Frau Gundersen im Blåsbortvei gewaschen und gelegt worden waren und für die folgende Woche den Kopf umschlossen hatten wie ein wohlgeformter Helm, waren in sich zusammengefallen und konnten die wunde, hellrote Kopfhaut nicht mehr verbergen. Sie hatte ihr Leben lang alle Kräfte in ihr Aussehen, ihren Mann und die Kinder investiert, und zwar in dieser Reihenfolge, bis dann die Enkelkinder gekommen waren und ihr Leben einen neuen Sinn gefunden hatte.
Aber ihre Mutter war
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