Galgenfrist für einen Mörder: Roman
1
Der Mann balancierte am Heck des Leichters, ein Frachtkahn mit flachem Rumpf. Über dem glitzernden Wasser der Themse gab er eine verwegene Gestalt ab, das Haar vom Wind zerzaust, die Lippen in dem kantigen Gesicht fest zusammengepresst. Im letzten Moment, als der andere Leichter schon fast vorübergefahren war, duckte er sich kurz und sprang. Beinahe verfehlte er das Deck, geriet ins Straucheln, richtete sich jedoch sogleich wieder auf. Sobald er sicher stand, drehte er sich um und winkte, eine groteske Geste des Jubels. Dann ließ er sich auf die Knie sinken und verschwand hinter dicht gestapelten Wollballen.
Monk verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während die Ruderer das Polizeiboot unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft wendeten und gegen den Sog des meerwärts strömenden Wassers in Richtung des Pool of London lenkten. Unter keinen Umständen hätte er den Befehl zum Schießen erteilt, selbst dann nicht, wenn er sicher gewesen wäre, dass in dem dichten Flussverkehr niemand anders getroffen würde. Er wollte Jericho Phillips lebend fassen und mit eigenen Augen sehen, wie er vor Gericht gestellt und gehängt wurde.
Im Bug des Polizeibootes fluchte Orme leise vor sich hin. Er war immer noch nicht so selbstsicher, dass er es wagte, seinen Gefühlen vor seinem neuen Kommandanten freien Lauf zu lassen. Monk war erst nach Durbans Tod vor einem halben Jahr zur Wasserpolizei gekommen. Der Dienst hier brachte ganz andere Anforderungen mit sich als die Arbeit an Land, mit der Monk Erfahrung hatte, doch noch schwieriger war es für ihn, die Führung von Männern zu übernehmen, die ihn für einen Außenseiter hielten. Er galt als brillanter Ermittler, aber auch als rücksichtsloser und verschlossener Einzelgänger, der es anderen schwer machte, ihn zu mögen.
In den acht Jahren seit seinem Unfall, der 1856 sein Gedächtnis ausgelöscht, ihm aber auch die Chance zu einem Neuanfang gegeben hatte, hatte er sich verändert. Er hatte gelernt, sich durch die Augen anderer zu sehen, und das war eine ebenso erhellende wie bittere Erfahrung gewesen. Allerdings gab es niemanden, dem er das erklären konnte.
Sie holten rasch zu dem Leichter auf, wo Phillips, vor ihren Augen verborgen, auf der Ladefläche kauerte, ohne dass der Mann am Ruder auf ihn achtete. Noch dreißig Meter, und sie würden Seite an Seite fahren. Sie waren zu fünft im Polizeiboot und damit mehr Polizisten als üblich, aber um einen Mann wie Phillips zu stellen, war Verstärkung womöglich durchaus vonnöten. Gesucht wurde er wegen der Ermordung eines Jungen von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren namens Walter Figgis, den man als Fig gekannt hatte. Er war schmächtig und von geringem Wuchs gewesen, und daran mochte es gelegen haben, dass er überhaupt so lange überlebt hatte. Phillips handelte mit Jungen ab einem Alter von vier, fünf Jahren bis zu der Zeit, in der sich ihre Stimme veränderte und sie begannen, die physischen Eigenschaften erwachsener Männer zu entwickeln, womit sie für diesen speziellen Bereich der Pornografie unbrauchbar wurden.
Das Polizeiboot schoss durch das aufgewühlte Wasser. Fünfzig Meter von ihnen entfernt fuhr ein Vergnügungsboot träge stromaufwärts, vielleicht mit dem Ziel Kew Gardens. An seinen Masten flatterten bunte Bänder im Wind, und Lachen, vermischt mit Musik, wehte herüber. Weiter vorn, im Upper Pool, lagen von Kohlenbarkassen bis hin zu Teeklippern beinahe hundert Schiffe vor Anker. Dazwischen kreuzten Leichter hin und her, auf die Schauermänner Frachten aus allen Winkeln der Welt luden.
Monk beugte sich etwas weiter vor. Schon holte er tief Luft, um die Ruderer zu noch größeren Anstrengungen anzufeuern, überlegte es sich dann aber anders. Das hätte so gewirkt, als traute er ihnen nicht zu, dass sie von sich aus ihr Bestes gaben. Doch es war schlichtweg unvorstellbar, dass es ihnen weniger wichtig sein könnte als ihm selbst, Phillips zu stellen. An Monk und nicht an ihnen hatte es gelegen, dass Durban in den Fall Louvain verwickelt worden war, der ihren damaligen Kommandanten letztlich das Leben gekostet hatte. Und Monk war derjenige, den Durban als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte, als ihm klar wurde, dass er sterben würde.
Orme hatte jahrelang unter Durban gedient, aber falls er Monk verübelte, dass nun er das Kommando führte, hatte er das kein einziges Mal gezeigt. Er war zuverlässig, gewissenhaft, sogar hilfsbereit, aber distanziert. Je länger Monk ihn allerdings beobachtete,
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