Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
wohlsten in dem kleinen Kreis von Gleichgesinnten, die gut in der Schule waren, Computer bauten, Pickel ausdrückten und Jens Bjørneboe lasen.
Überraschenderweise studierte er dann Jura. Irgendetwas passierte mit ihm, sowie er einen Fuß in die Universität setzte. Er war nicht mehr in der erbarmungslosen Teenagerhierarchie der letzten Schuljahre gefangen. Jon Mohr konnte ein neues Leben beginnen und ergriff diese Gelegenheit mit beiden Händen. Das Jurastudium war perfekt für ihn. Er war ein heller Kopf, gerade konservativ genug, und schon im zweiten Semester wurde er ins Studentenparlament gewählt. Er fiel den Professoren auf. Im zweiten Jahr schrieb er einen langen Essay, dem er den Titel gab: »Vierzehn Ratschläge an Studierende, die nach oben wollen, ohne sich große Mühe zu geben – oder wie man die Tatsache verbirgt, dass man rein gar nichts weiß«. Er verteilte das Heft gratis an alle, die es haben wollten. Alle wollten es, und die meisten schütteten sich aus vor Lachen. Jon Mohr war zu einem kleinen König in seinem Studienfach geworden und hatte jetzt sogar Erfolg bei den Frauen.
Aber ein fertiger Jurist wurde er dann doch nicht.
Schon im dritten Studienjahr wurde ihm ein fett bezahlter Posten in Norwegens größtem PR-Büro angeboten, und das in einer Zeit, als der Pfeil für diese Branche so steil und weit nach oben zeigte, dass kein Ende abzusehen war. Mit vier Jahren Erfahrung nahm er dann den besten Kollegen und den Löwenanteil der lukrativen Kundenkontakte der Firma mit und machte sich selbstständig.
Und traf Ellen.
Er traf sie wieder, wie er immer sagte. Seit der Grundschule war er in sie verliebt gewesen, er wie so viele andere. Der Unterschied war, dass sie ihn jetzt auch sah.
Ungefähr um diese Zeit muss sich alles verändert haben, dachte Inger Johanne, als sie den Polo ihrer Mutter vor der Doppelgarage im Glads vei abstellte. Jedenfalls muss es der Anfang des seltsamen Prozesses gewesen sein, in dem Jon aufblühte und Ellen langsam, anfangs fast unmerklich, zu einer anderen wurde.
Die Haustür war nur angelehnt.
»Hallo?«
Inger Johanne schaute in die Diele.
»Komm rein«, sagte Ellen, die aus dem ersten Stock heruntergelaufen kam.
Sie trug einen roten Pullover und Jeans, ihre bloßen Füße steckten in schwarzen Crocs. Inger Johanne wurde verlegen, als sie das leicht geschminkte Gesicht mit dem frisch aufgetragenen Lippenstift sah. Sie selbst hatte sich dieses ganze Ritual geschenkt, in der Gewissheit, dass sie einen verweinten Menschen besuchen würde, der vermutlich im Trainingsanzug herumlief.
»Ich habe noch nichts von Jon gehört!«, sagte Ellen atemlos. »Ich habe versucht, Gabriel Grossmann anzurufen, aber ich habe ihn noch nicht erreicht.«
»Moment«, sagte Inger Johanne. »Welchen Gabriel Grossmann?«
»Den Anwalt. Jons Anwalt!«
Ellen machte keinerlei Anstalten, sie willkommen zu heißen.
»Er ist wohl eher ein Wirtschaftsanwalt«, sagte Inger Johanne. »Außerdem haben sie Jon sicher nur zur Vernehmung geholt. Wenn die Polizei erst ...«
»Dieser Polizist ist doch hergekommen! Hätte er nicht einfach anrufen können? Man macht doch am Samstagabend keine Vernehmungen, oder? Nicht, wenn man nicht glaubt, dass etwas wirklich Schwerwiegendes ...«
Schon bekam die Fassade Risse. Ellen fing an zu weinen und verbarg für einen Moment das Gesicht hinter ihrem Unterarm, ehe sie plötzlich drei Schritte vortrat und sich Inger Johanne an die Brust warf.
»Mord«, schluchzte sie nach einigen Sekunden. »Sie glauben, dass Jon Sander umgebracht hat.«
»Natürlich glauben sie das nicht«, sagte Inger Johanne und streichelte den schmalen Rücken ihrer Freundin.
Sie duftete frisch geduscht, und ihr Rückgrat fühlte sich unter dem weichen Pullover an wie eine Holzperlenkette.
»Er wollte sicher nur ...«
»Dieser verdammte Polizist hat es doch gesagt!«
Ellen ließ sie so plötzlich los, wie sie ihr um den Hals gefallen war. Sie trat schwankend zwei Schritte zurück. Ihre Wimperntusche war verschmiert, und ihr Lippenstift hatte auf Inger Johannes Pullover Spuren hinterlassen.
»Er hat es gesagt, als Jon wissen wollte, warum die Vernehmung schon jetzt sein müsse«, weinte sie. »Er hat gesagt ...«
Sie holte tief Luft und hob die Schultern in dem krampfhaften Versuch, sich zusammenzureißen.
»... er hat gesagt, in solchen Fällen können wir das doch nie wissen. Wenn ein Kind stirbt, müssen wir natürlich feststellen, ob Misshandlungen
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