Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Krogh geheißen und einen fast hundert Personen großen Freundeskreis angeführt hatte. Ellen holte sie aus ihrer winzigen Wohnung in Majorstua heraus, und das manchmal so energisch, dass Inger Johanne ärgerlich wurde und sich weigerte. Aber Ellen gab nicht nach. Durch Ellen war Inger Johanne dann endlich wieder in ihrem Heimatland angekommen. Durch sie hatte sie Isak kennengelernt, den sorglosen Vater von Kristiane, einen Mann mit so sonnigem Gemüt, dass die Ehe einfach zum Scheitern verurteilt war.
Ellen war immer so gut zu ihr gewesen, ging Inger Johanne jetzt auf, bis das Leben ihr die dritte Fehlgeburt zugemutet hatte und Ellen es kaum noch schaffte, gut zu sich selbst zu sein.
Inger Johanne schaute verstohlen auf die Uhr.
»Du hast ihn also gefunden?«, fragte sie und zog, so diskret sie konnte, den Pulloverärmel darüber.
»Ja. Ich kam da hoch ...«
Mit einem ziemlich unnötigen Seitenblick auf die Treppe.
»... und habe ihn sofort gesehen. Er hat sich nicht bewegt.«
»Und die Trittleiter?«
»Die hatte er selbst geholt. Die steht sonst in einem Abstellraum hinter der Küche.«
Wieder zeigte sie in die Richtung. Diesmal mit einem kleinen Nicken, als ob Inger Johanne noch nie im Haus gewesen wäre.
»Ich vermute, er wollte die Decke bemalen. Wir waren vor drei Wochen in Rom im Petersdom, und er hat sich fast das Genick gebrochen, weil er die ganze Zeit zu den Deckengemälden hochgestarrt hat.«
Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, das erste, das Inger Johanne seit ihrem Eintreffen hier sah.
»Du solltest mal sein Zimmer sehen. Vier Autos mit Auspuffwolken. An der Decke. Über dem Bett. Er zeichnet so gern. Es ist das Einzige, wobei er sich wirklich eine Weile konzentrieren kann.«
Inger Johanne erwiderte das Lächeln.
Dann schwiegen sie so lange, dass Inger Johanne schon dachte, Ellen sei vielleicht eingeschlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete langsam und regelmäßig.
»Ellen?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich schlafe nicht.«
»Gut.«
»Er war tot. Das habe ich sofort gesehen.«
»Woran denn?«
»So was weiß man einfach.«
Eigentlich nicht, dachte Inger Johanne.
»Wirklich?«, fragte sie nach.
»So, wie er da lag. Er atmete nicht. War so still. So grauenhaft still.«
»Ich bin froh, dass du nicht allein warst«, sagte Inger Johanne.
»Was?«, fragte Ellen und riss die Augen auf.
»Dass Jon hier war. Ich gehe davon aus, dass du ... geschrien hast? Dass er dich gehört hat?«
»Ja. Doch. Er war fast sofort hier. Glaube ich. Ich bin nicht ganz sicher. War er nicht in seinem Arbeitszimmer?«
»Das hast du gesagt.«
»Ja.«
Ellen fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, so fest, dass ihre Augen für einen Moment schräg standen.
»Ich weiß das alles nicht mehr so genau!«, sagte sie, und ihre Stimme klang fast wieder schrill. »Helga war gerade gegangen, und ich kam mit den Servietten nach oben und sah Sander tot neben ... neben der verdammten Trittleiter liegen. Jon hat mich festgehalten. Er hat versucht, mich festzuhalten, und ich ...«
»Er war also hier.«
»Wer?«
»Jon«, sagte Inger Johanne.
»Ja, er kam nach mir rauf, ich hab doch gesagt ...«
Sie sprang auf und stellte sich vor Inger Johanne hin. Das Zimmer lag im Halbdunkel, und die Sommernacht senkte sich hinter den Fenstern herab. Das Licht einer Terrassenlampe gab Ellen einen Glorienschein, unter dem ihr Gesicht im Dunkeln lag.
»Du darfst nicht glauben, dass Jon es war! Ich war zuerst hier oben. Ich ... ich schwöre, Inger Johanne, ich kam mit den Servietten rauf, und Jon muss mich schreien gehört haben, denn er kam angelaufen und hat mich festgehalten und auch mit aufgepasst und ...«
»Ganz ruhig. Es ist normal, dass man sich nach einem solchen Trauma nicht an alle Details erinnern kann. So funktioniert das Gehirn eben, es ...«
»Du darfst nicht zulassen, dass sie Jon einsperren«, sagte Ellen, und jetzt war ihre Stimme vom Schmerz so verzerrt, dass Inger Johanne eine Gänsehaut bekam. »Dann hab ich nichts mehr. Nichts, Inger Johanne. Kein Kind, keine Arbeit, keinen Mann, kein Geld. Nichts.«
»Du musst wirklich versuchen, dich zu beruhigen«, sagte Inger Johanne und erhob sich langsam. »Vielleicht solltest du dich hinlegen. Hast du noch welche von den Schlaftabletten?«
Ellen nickte kaum merklich.
»Er war es nicht«, murmelte sie. »Die Polizei glaubt, dass Jon es war, aber ...«
Eine Tür knallte. Die Haustür, nach dem dumpfen schweren Geräusch zu
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