Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
wird sicher nicht lange dauern.«
Er konnte sich gerade noch eingestehen, dass er sich nicht sehr taktvoll ausgedrückt hatte, da gab es einen Knall. Jon Mohr war so schnell aufgesprungen, dass der Stuhl umkippte und hinter ihm gegen die Wand flog. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung hatte er den Schreibtisch umrundet, den Stuhl des Polizisten mit der linken Hand gepackt und die rechte Faust zum Schlag erhoben.
»Mein Junge ist tot «, schrie er. »Er ist tot, verstehen Sie? Durch einen Unfall! Einen grauenhaften, unnötigen Unfall! Wenn Sie glauben, dass ein Grünschnabel wie Sie hier so einfach unterstellen darf, dass meine Frau oder ich ...«
Die Faust schoss vor und hielt wundersamerweise zwei Zentimeter vor Henrik Holmes Kinn an.
»Begreifen Sie denn gar nicht?«, flüsterte Jon Mohr mit heiserer Stimme. »Wissen Sie denn gar nichts über Trauer und Verlust und Schmerz?«
Henrik Holme spürte den Atem des anderen an seinem eigenen Mund, harsch und bitter und mit einer Andeutung von Pfefferminz. Das riss ihn aus seinem Schock über den unerwarteten Angriff und ließ ihn seinen Stuhl zurückschieben. Blitzschnell sprang er auf und hob die Hände zu einer halb beschützenden, halb drohenden Boxhaltung.
»Setzen Sie sich!«, sagte er, so energisch er konnte.
Seine Stimme zitterte, aber der andere wirkte zu erregt, um das zu merken. Am liebsten hätte Henrik Holme um Hilfe gerufen. Überall waren Leute, es würde nur Sekunden dauern, bis jemand da wäre.
Aber es wäre ein bisschen peinlich.
Das hier war sein allererster echter Fall.
»Setzen Sie sich«, sagte er, noch einmal, diesmal lauter.
»Nein, verdammt«, sagte Jon Mohr mit zusammengebissenen Zähnen. »Mit Ihnen rede ich kein verdammtes Wort mehr.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke drehte er sich dann halb um.
»Und wenn Sie vorhaben, mich wegen Gewalt gegen einen Beamten im Dienst anzuzeigen, dann können Sie das gleich vergessen. Ich habe Sie ja nicht mal berührt. Das nenne ich ...«
Er schluckte hart und hob einen langen schmalen Zeigefinger.
»... das nenne ich Selbstbeherrschung«, fügte er heiser hinzu und ging.
Er ließ die Tür sperrangelweit offen, und Henrik Holme hörte nur das Geräusch seiner eigenen hämmernden Herzschläge.
Erst nach mehreren Sekunden wagte er, die Arme sinken zu lassen.
Als Ellen K. Mohr nur Ellen Krogh geheißen hatte, war sie die gewesen, die alle wollten.
Sie war umgeben von Sternenstaub.
Ob man Ellen Krogh nahestand oder nicht, machte den alles entscheidenden Unterschied. Als Mädchen war sie keine typische Grundschulkönigin gewesen. Sie spielte die anderen nicht gegeneinander aus. Statt deren Unsicherheit auszunutzen, machte sie alle selbstsicher. Ellen Krogh herrschte nicht und schikanierte nicht, sie entschied einfach, weil ihre Umgebung das so wollte. Das zierliche hübsche Mädchen regierte ungewöhnlich lange. Als sie dann älter waren, bedeutete zu Ellen Kroghs Clique zu gehören, dass die eigenen Chancen auf dem Markt der Geschlechter stiegen. Jungen, später Männer, fühlten sich mit einer solchen Kraft zu Ellen Krogh hingezogen, dass sie sich glücklich mit einer Hofdame begnügten, wenn die Königin selbst sie nicht wollte.
Eine gute Schülerin war sie noch dazu.
Gleich nach dem Abitur begann sie Zahnmedizin zu studieren, brachte das Studium in der vorgeschriebenen Zeit hinter sich und übernahm nur drei Jahre nach dem Examen die Praxis einer Großtante. Mit achtundzwanzig Jahren besaß sie ein blühendes Unternehmen mit sechs Angestellten und verdiente mehr als eine Million Kronen im Jahr.
Das war jetzt fünfzehn Jahre her, und Inger Johanne hätte gern gewusst, wann Ellen eigentlich vom Thron gestürzt war.
Vielleicht war die Veränderung mit dem Namenswechsel einhergegangen.
Dass am Ende Jon Mohr bei Ellen Krogh Erfolg haben sollte, hätte zu Schulzeiten niemand geglaubt. Jon war schlaksig und groß, er war ein schlechter Fußballspieler und meist mit seinesgleichen zusammen. Die, die etwas bedeuteten, bemerkten ihn eigentlich erst, als er mit siebzehn Jahren mit dem geistreichen Essay »Rubbish and b***shit – the limitation of oral communication« einen internationalen Schreibwettbewerb gewann.
Dieser Sieg brachte ihm fünfzigtausend Kronen ein, er wurde von Aftenposten interviewt und war damit in der Schule nachdrücklich aus der Anonymität herausgetreten. Aber das spielte keine Rolle, der Junge fühlte sich noch immer am
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