Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
anderen Seite des niedrigen Glastisches und sah aus wie tot. Obwohl er erst drei Wochen zuvor aus Italien zurückgekommen war, wirkte die Haut unter den dunklen Bartstoppeln fast milchig weiß. Seine Augen waren geschlossen und der Mund halb offen.
»Jon«, sagte Helga Mohr leise, aber entschieden. »Jetzt hör mir zu. Ich habe einen Plan.«
»Nein«, murmelte er. »Das will ich nicht.«
Helga dachte kurz nach, gerade lange genug, um es zu denken und dann zu verwerfen, ihm also nicht zu sagen, was sie wusste.
»Jon«, sagte sie noch einmal und setzte sich gerade.
Sie feuchtete sich die Lippen an und sah, dass er immerhin die Augen geöffnet hatte. Ihre scharfe Stimme hatte bei ihm einen Reflex ausgelöst, einen Funken von Gehorsam. Er setzte sich ebenfalls aufrecht und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dann räusperte er sich, schluckte und starrte ihr in die Augen.
»Ja?«
»Mit Schande kann man leben«, sagte sie. »So lange es die eigene ist. Jeder kann seine Schande tragen, wenn er Würde und Stärke besitzt. Es gibt Schlimmeres. Viel Schlimmeres, und dem ist diese Familie entgangen, so lange ich auf der Welt bin.«
Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, zu einer schmerzhaften Grimasse, dann schlug er die Hände vors Gesicht. »Schlimmeres?«, fragte er mit halb erstickter Stimme. »Was könnte denn schlimmer sein als das hier?«
»Gefängnis«, antwortete sie mit scharfer Stimme. »Und jetzt hör mir gefälligst zu.«
Henrik Holme hatte Oslo in den Jahren an der Polizeischule gut kennengelernt. Seine Freunde hatten in Zimmern und Wohngemeinschaften überall in der Stadt gehaust, die glücklichsten in Majorstua, wo sie zu Fuß zur Schule gehen konnten. Aber niemand hatte in Tåsen gewohnt, ging ihm auf, als er im Maridalsvei aus dem Bus stieg und nicht sicher war, welche Richtung er einschlagen sollte.
Der Tag, an dem Henrik seine erste Polizeiuniform erhalten hatte, gehörte zu den unvergesslichen Augenblicken seines Lebens. Damit die Ärmel lang genug wären, waren Hemd und Jacke am Hals zu weit, und es war unmöglich, eine Hose zu finden, die weder zu kurz war noch herunterrutschte. Dennoch war das Gefühl, eine neue und wichtige Rolle zu übernehmen, absolut überwältigend. Eine fast sexuelle Erregung hatte ihn erfasst, als er im Mädchenzimmer bei seiner Tante die Uniform ausgepackt und langsam angezogen hatte. Als er am Ende die Füße in ein Paar neue glänzend schwarze Schuhe steckte und vor dem großen Spiegel, den er vom Gang in sein Zimmer geschafft hatte, den Kragen zurechtzog, war er sich endlich erwachsen vorgekommen. Das hier war er . Der Mann, der er endlich geworden war.
Jetzt trug er Jeans, einen gestreiften Baumwollpullover und Turnschuhe. Als er zögernd die Straße überquerte und sich auf die Suche nach der Nygårds allé machte, versuchte er, sich davon zu überzeugen, dass er genau derselbe war wie immer. Der Unterschied war nur, dass er freihatte. Dennoch war er in einer Art Mission unterwegs, und er dachte an den Rat eines alten Professors auf der Hochschule: »Als norwegischer Polizist bist du immer Polizist. Verhalte dich in jeder Situation so, als trügest du Uniform.«
Die anderen Studierenden hatten gekichert. Henrik hatte die Sätze auswendig gelernt. Jetzt flüsterte er sie vor sich hin, wieder und wieder, bis er den Hauges vei gefunden hatte und sich dem Haus mit dem richtigen Nummernschild näherte.
Inger Johanne Vik war merklich überrascht gewesen, als er vor anderthalb Stunden bei ihr angerufen hatte. Aber sie hörte zu, zu seinem Erstaunen. Er hatte sich auf eine Abweisung gefasst gemacht, es wirkte doch wie nicht ganz gescheit, dass er als Polizist in seiner Freizeit um ein Treffen mit einer Art Zeugin in einem Fall bat, mit dem er sich nicht mehr befassen durfte.
Vorher hatte er lange nach einer Möglichkeit gesucht, seine Geschichte auszuschmücken, sie genießbarer zu machen für eine, die mit einem erfahrenen Polizisten verheiratet war und sicher stutzig werden würde, wenn er sich außerhalb der Dienstzeit an sie wendete. Am Ende hatte er es aufgegeben und sich für die Wahrheit entschieden, er war ein elender Lügner. Er musste es eben darauf ankommen lassen, dachte er, und sie ließ ihn seinen Spruch ungestört aufsagen. Er erzählte über sein Gespräch mit Elin Foss, über die Begegnung mit Sanders Lehrerin in Grorud und am Ende über Tove Byfjords strikte Weisung, einen großen Bogen um den ganzen Fall zu machen.
Sogar als Inger
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