Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
sie so plötzlich, dass Inger Johanne die Augenbrauen hob. »Und ich meine wirklich Gewalt, keine anderen Übergriffe oder Vernachlässigung.«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Und es scheint auch sonst niemand zu wissen. Ich habe überall gesucht. Habe sicher zehn Stunden im Netz verbracht. Ich habe mich an Jugendämter gewandt. Niemand weiß es genau. Einige Quellen sagen, über zwanzigtausend. Andere Zahlen liegen höher, einige auch tiefer.«
»Schwierige Materie«, sagte Inger Johanne und nickte. »Hohe Dunkelziffer, nehme ich an.«
»Wissen Sie, wie viele verurteilt werden, weil sie ihre Kinder misshandelt haben?«
»Nicht viele.«
»Eine Handvoll pro Jahr. Falls überhaupt.«
Als er die Hand nach dem Wasserglas ausstreckte, brauchte sie nicht den Umweg über die Nase zu nehmen. Er zitterte nicht mehr.
»Vielleicht hat es mich deshalb besonders provoziert, dass der Rektor an Sanders Schule beide Meldungen in einer Schublade vergammeln lässt.«
»Das wissen Sie aber noch gar nicht«, sagte sie. »Er kann seine eigenen Untersuchungen angestellt haben, ohne Elin Foss darüber zu informieren.«
»Nein. Die Vorschriften verlangen in solchen Fällen, dass die Person, die Meldung erstattet hat, zum Gespräch bestellt wird. Jedenfalls, wenn sie an der Schule angestellt ist. Das habe ich überprüft.«
»Na gut«, sagte Inger Johanne skeptisch. »Aber es wird doch dauernd gegen Vorschriften verstoßen. Und dafür kann es gute Gründe geben.«
»Überlegen Sie doch mal!«, sagte er mit einem Lächeln, das ihn viel selbstsicherer aussehen ließ. »Haldis Grande hätte es gewusst, wenn die Schule sich nach Sanders Lebensumständen erkundigt hätte. Sie war seit zwei Jahren seine Klassenlehrerin. Sie hatte keine Ahnung. Im Gegenteil. Sie wollte davon, dass Sander misshandelt worden sein könnte, nichts wissen.«
»Das klingt richtig. Natürlich hätte sie es gewusst. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
Sein Lächeln wurde noch breiter.
»Hat Elin Foss Kopien ihrer Meldungen?«, fragte Inger Johanne. »Irgendeinen Beweis, dass sie die wirklich eingereicht hat?«
»Das ... danach konnte ich nicht mehr fragen. Das Gespräch wurde ... ein wenig plötzlich abgebrochen.«
Es war faszinierend, wie schnell Henrik Holmes Farbe wechseln konnte. Eben noch hatte er mit stolzem Lächeln und frischem Sommerteint vor ihr gesessen, und plötzlich war sein Gesicht tiefrot. Er schluckte, und seine Hände fuhren hektisch zwischen Wasserglas und Nase hin und her.
»Keine Angst«, sagte Inger Johanne leise. »Das finden wir schon noch raus.«
»Sie ist in Australien«, sagte er kleinlaut. »Reist da herum. Ich kann sie nicht so schnell erreichen. Aber ich habe jedenfalls ...«
Er bückte sich nach seinem Rucksack, öffnete ihn und zog eine Plastikmappe hervor. Der Inhalt wurde sorgfältig auf dem Couchtisch verteilt, in vier Stapeln. Einer enthielt Kopien der eigentlichen Fallunterlagen, wie sie sah. Bei dem nächsten schien es sich um Artikel zu handeln, die er wie ein Student gelesen hatte, mit Notizen am Rand und gelben Markierungen. Der dritte sagte ihr nichts. Er reichte ihr den vierten, einige Blätter in einer roten Mappe.
»Hier«, sagte er. »Sanders Rektor.«
»Sie halten ja bewundernswert Ordnung in Ihrem Nähkästchen«, sagte sie und schlug die Mappe auf. »Wie heißt er?«
»Ragnar Reiten, dreiundvierzig Jahre alt. Seit fast vier Jahren Rektor, vorher war er Lehrer an derselben Schule. Auf der zweiten Seite ist eine Art Lebenslauf. Ich habe die Infos auf der Website der Schule gefunden und auf einer für ... er ist Numismatiker, habe ich festgestellt. Ziemlich leidenschaftlich.«
Inger Johanne gab keine Antwort. Sie sah sich das Bild an und zeigte keinerlei Interesse an Seite 2.
»Vielleicht ... vielleicht ist das mit der Münzsammlung nicht so relevant«, sagte Henrik nervös.
Noch immer schaute sie nicht auf.
»Ist vielleicht auch blöd, das Foto auszudrucken«, fügte er eilig hinzu. »Ist doch egal, wie der Typ aussieht.«
Inger Johanne schluckte hörbar.
»Mehr als sein Name war ja nicht nötig«, sagte Henrik, legte die anderen Unterlagen aufeinander und schob sie rasch in die Plastikhülle. »Ich nehme das ein bisschen zu wichtig ... will irgendwie alles in ein System bringen. Tut mir leid. War immer schon so bei mir.«
Hilflos blieb er mit der Plastikmappe auf den Knien sitzen.
»Nein«, sagte Inger Johanne, ohne aufzusehen. »Der Name hätte nicht gereicht.«
»Kennen Sie
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