Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
Luca, dass er den ganzen Tag nicht an seine Mutter gedacht hatte.
Er stand auf. »Die Sonne geht gleich unter. Ich muss zurück zu unserer Hütte.«
Peddyr streckte seine Hand aus. Als Luca sie ergriff, sagte er: »Komm morgen wieder. Dann zeigen wir dir, wie man Flugschlangen jagt.«
»Das werde ich.«
Luca verabschiedete sich von den anderen, dann machte er sich auf den Weg zurück zum Dorf. Seine Gedanken kreisten bereits um den nächsten Tag. Die Vorstellung, einer Flugschlange zu begegnen, beflügelte seine Phantasie. Es gab so viel, was seine neuen Freunde ihm zeigen konnten, so viel, von dessen Existenz er noch nicht einmal etwas ahnte.
Die Handwerker auf dem Dorfplatz räumten bereits ihr Werkzeug weg, als Luca vorbeiging, und um ihn herum kehrten die Arbeiter von den Feldern und Weiden zurück. Es roch nach gekochtem Gemüse und gegrilltem Fleisch. Luca wurde auf einmal klar, wie hungrig er war. Als er die Hütten der Menschen erreichte, knurrte sein Magen so laut, dass er glaubte, jeder müsse es hören.
Die meisten Menschen hatten Stühle und Hocker nach draußen gestellt und genossen die letzten Strahlen der Abendsonne. Um Norbert und Maurice hatte sich eine kleine Gruppe gebildet. Die Gesichter der Menschen wirkten ernst und traurig. Luca blieb überrascht stehen, als er seine Schwester zwischen den Erwachsenen sitzen sah. Sie hielt den Kopf gesenkt und bemerkte ihn nicht.
Er trat näher heran. Norbert musterte ihn kurz aus den Augenwinkeln, fuhr aber fort, ohne ihn zu beachten: »Wir sollten uns darauf einstellen, dass dies die Endstation ist. Fast die Hälfte der Zeit, die uns in dieser Welt gewährt wurde, ist verstrichen, und wir haben noch keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Im Gegenteil. Gewisse Personen lassen sich von den Kräften hier instrumentalisieren und jagen einer Fata Morgana nach der anderen hinterher. Das kann und wird nicht gut gehen.«
Er sah die Menschen um sich herum an. Seine Stimme wurde leiser, aber auch eindringlicher. »Es ist Zeit, das Unvermeidliche zu akzeptieren und dem Ende mit Würde entgegenzublicken.«
Frans schluchzte auf. Rudy legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn zu sich heran.
Luca fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und machte einen zögernden Schritt auf seine Schwester zu. »Sandra?«, flüsterte er. »Was machst du denn hier?«
Sie hob den Kopf, und er sah, dass sie geweint hatte. »Ich höre mir an, was sonst keiner auszusprechen wagt.«
»Aber du weißt doch gar nicht, ob das wahr ist. Laura ...« Luca brach ab, als sich die Blicke der Erwachsenen auf ihn richteten. Er fühlte sich wie damals, als man ihn allein ins Lehrerzimmer gerufen hatte, um ihn zu einer Reihe unerklärlicher Menthos-Cola-Explosionen auf dem Schulhof zu verhören. Am liebsten wäre er in seine Hütte gelaufen und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen, aber er zwang sich, stehen zu bleiben.
»Laura«, wiederholte er, »und die anderen tun, was sie können, um uns alle zu retten. Und so lange sind wir hier sicher.«
Norbert räusperte sich. »Junger Mann«, begann er. Luca hasste es, wenn man ihn so nannte. »Du kannst nichts für deine mangelnde Lebenserfahrung, aber es wäre besser, wenn du zuhören würdest, anstatt zu reden, so, wie es deine Schwester tut. Wir sind hier alles andere als sicher. Sieh dich doch um. Wir sind umgeben von Ungeheuern, deren wahre Intentionen wir nicht einmal ahnen können.«
Die anderen nickten, sogar Sandra.
Ich war mit den Ungeheuern schwimmen, dachte Luca, und sie waren netter als du.
Aber er traute sich nicht, das laut auszusprechen. Stattdessen legte er seiner Schwester die Hand auf die Schulter. »Komm!«, sagte er leise. »Wir holen uns etwas zu essen, und morgen nehme ich dich mit runter zum Fluss. Da gibt es Flugschlangen und einen Krakenjungen. Wir ...«
Sandra sprang auf, schüttelte seine Hand mit einer Drehung ihrer Schulter ab. »Wie kannst du an so etwas denken?«, schrie sie. »Unsere Mutter ist vielleicht schon tot, und du erzählst hier was von Flugschlangen! Du bist echt das Letzte, Luca!«
Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch dann rannen Tränen über ihre Wangen und raubten ihr die Worte. Mit einem verzweifelt wirkenden Blick sah sie Luca an, bevor sie sich abwandte und zu ihrer Hütte lief.
Norbert seufzte tief und theatralisch. »Die Jüngsten trifft es immer am härtesten.«
Maurice nickte. »Aber wenigstens kann sie jetzt dank dir der Wahrheit ins Auge blicken.«
»Das ist ein
Weitere Kostenlose Bücher