Schattennächte: Thriller (German Edition)
Versuchung, ständig über ihre Schulter zu schauen. Sie ging an dem Schuppen in der hinteren Ecke von Ballencoas Garten vorbei, dann drehte sie sich rasch um und duckte sich. Eng an die Ficushecke gedrückt, schlich sie zu der Garage und hoffte, dass Ballencoa, wenn er denn zu Hause war, nicht gerade jetzt aus einem der hinteren Fenster sah.
Die Hecke reichte fast bis zur Garage. Sie musste sich flach an die Wand pressen, um zu dem kleinen Fenster in der Mitte zu kommen. Dennoch verfingen sich Äste in ihrer Kleidung und zerkratzten ihr die Wange wie die Klauen einer Meute von Katzen.
Immerhin war die Garage leer, stellte sie fest, als sie endlich hineinsehen konnte. Wenn Ballencoa zu Hause war, dann hatte er sein Auto auf der Straße abgestellt. Aber als sie um den Block gefahren war, hatte sie keinen Kastenwagen gesehen. Das hieß, dass sie Zeit hatte. Wie viel, stand in den Sternen.
Sie trat hinter der Hecke hervor und durchquerte schnell den Garten zur Hintertür des Hauses. Eine kleine Holztür mit einem Sprossenfenster in der oberen Hälfte, das aus neun kleinen Glasscheiben zusammengesetzt war. Hübsch, aber nicht gerade sicher.
Mit zitternden Händen griff sie in ihre Tasche. Sie trug ein Paar von Leahs Reithandschuhen aus feinem, weichem Leder, die so eng wie eine zweite Haut saßen. Sie zog eine Rolle Kreppband heraus und begann, lange Streifen abzureißen und sie über die Glasscheibe oberhalb des Türschlosses zu kleben.
Ballencoas Garten war hinter der hohen Hecke und dem Schuppen in der Ecke kaum einsehbar. Zusätzlich versperrte ein mit Prunkwinden überwucherter hoher Holzzaun auf der anderen Seite des Gehwegs die Sicht vom Nachbarhaus aus. Wenn nicht gerade jemand den Weg herunterkam, war sie kaum zu entdecken.
Sie zog den Hammer aus der Tasche und schlug damit auf das beklebte Glas. Zuerst zu leicht, deshalb schlug sie ein wenig fester zu und dann noch ein wenig fester. Beim dritten Schlag bemerkte sie, wie das Glas in der Ecke des Fensters nachgab. Auf diese Weise bearbeitete sie die gesamte Scheibe und klopfte gerade fest genug gegen das Glas, damit es zerbrach. Das Klebeband verhinderte, dass die Scherben zu Boden fielen.
Das tat sie so lange auf einer Seite des kleinen Fensters, bis sie die an dem Klebeband haftenden Scherben vorsichtig hinter den unbeschädigten Teil klappen konnte, dann machte sie mit dem Hammer weiter, bis sie schließlich die ganze Scheibe in der Hand hielt – eine flexible Fläche aus Kreppband, das auf einer Seite die Scherben festhielt.
Vorsichtig wickelte sie das Ganze in einen Plastiksack und steckte es in ihre Leinentasche. Dann griff sie durch das leere Fenster und drehte den Schlüssel im Schloss um.
Mit angehaltenem Atem betrat sie das Haus von Roland Ballencoa.
Außer dem Pochen ihres eigenen Pulses in ihren Ohren war das Brummen des Kühlschranks das einzige Geräusch, das Lauren hörte. Sie trat in die winzige Küche und sah sich um – Dreißigerjahrefliesen, einfarbig lackierte Schränke, nirgendwo stand etwas herum, die Wände waren nackt. Nicht einmal eine Einkaufsliste war mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt.
Im Kühlschrank befanden sich eine Flasche Mineralwasser, eine Flasche Apfelessig, ein Kopfsalat, ein Becher Hüttenkäse. Im Schrank Weizenkleie, Frühstücksflocken, Vitamintabletten.
Es kam ihr geradezu abartig vor, dass er derart auf seine Gesundheit bedacht war. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen wie Hunger und Durst war. Für sie war er etwas … anderes. Er ernährte sich von Angst und trank die Verzweiflung seiner Opfer. Wozu brauchte er da Vitamin B und eine regelmäßige Verdauung? Es wäre ihr plausibler vorgekommen, wenn er wie ein blutsaugender Vampir in einem dunklen Schrank geschlafen hätte.
Sie wusste nicht, wonach sie suchte, während sie durch das Haus schlich, und sie fand auch nichts. Esszimmer und Wohnzimmer waren spartanisch eingerichtet. Es standen nur ein paar wenige Möbel herum. Es gab keine Pflanzen. Es gab keine Zeitschriften. An der Haustür standen keine Schuhe. Auf dem Tisch lag keine Post, nicht einmal eine Rechnung oder Werbung oder die Einladung zu einem Gewinnspiel.
Hier kann niemand leben , dachte sie, nahm die Polster vom Sofa und ließ sie auf den Boden fallen. In die Ritzen des Sofas waren nicht einmal eine Münze oder ein paar Krümel gerutscht.
Was machte er, wenn er nicht gerade jungen Frauen nachstellte? Las er? Hörte er Musik?
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