Schattennächte: Thriller (German Edition)
dass er ihre großen blauen Augen umrahmte.
Leah gab keine Antwort.
»Du bist eine Memme«, erklärte Leslie. »Ich bin wieder da, bevor sie nach Hause kommen.«
Während Leah ihrer Schwester nachsah, wie sie auf ihrem Fahrrad die Straße hinunterfuhr, hoffte sie im Stillen, dass es nicht so sein würde. Sie hoffte, dass Leslie Stunden zu spät zum Abendessen kommen und noch viel mehr Ärger kriegen würde, als sie sowieso schon hatte.
Leslie wurde immer kleiner, und dann war sie verschwunden.
Sie kam niemals zurück.
Leah setzte sich im Bett auf und rang nach Luft. Sie hatte das Licht brennen lassen wie meistens. Als Kind hatte sie nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Jetzt fürchtete sie sie wegen der Träume, die mit ihr kamen.
Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie sich zusammenrollte und die Decke bis ans Kinn hochzog. Die Schuld, die sie empfand, lastete wie ein Bleigewicht auf ihrer Brust.
Vom Verstand her wusste sie, dass das Verschwinden ihrer Schwester nichts mit ihrem Wunsch zu tun hatte, aber das änderte nichts an ihren Gefühlen. Sie war jetzt beinahe so alt wie Leslie an jenem schrecklichen Tag, aber wenn sie nach einem dieser Albträume aufwachte, fühlte sie sich wie das Kind, als das ihre Schwester sie bezeichnet hatte.
Am liebsten hätte sie geweint, aber nicht allein. Allein zu weinen war mit das Schlimmste und Deprimierendste, was sie kannte. Sie kam sich dann immer noch einsamer und verlassener vor, als sie es ohnehin schon tat, als hätte sich ein großes schwarzes Loch vor ihr im Boden geöffnet und würde sie verschlingen.
Wenn ihr Vater noch gelebt hätte, dann wäre sie zu ihm und hätte sich von ihm in den Arm nehmen und trösten lassen, aber zu ihrer Mutter wollte sie nicht. Ihre Eltern waren nach Leslies Verschwinden beide völlig verzweifelt gewesen, aber sie waren unterschiedlich damit umgegangen.
Während ihr Vater traurig und verloren gewirkt hatte, hatte ihre Mutter wütend reagiert. Ihre Mutter hatte der Schmerz dazu gebracht zu kämpfen, während ihr Vater allmählich daran zerbrochen war. Manchmal machte es Leah zornig, dass er aufgegeben und sie alleingelassen hatte, und gleichzeitig machte es sie noch trauriger, weil sie offenbar nicht Grund genug für ihn gewesen war weiterzumachen. Hatte er Leslie so viel mehr geliebt, dass er den Gedanken an ein Leben ohne sie nicht ertrug?
Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen und blieben an ihren Wimpern hängen. Sie fühlte sich so allein. Sie wollte nicht zu ihrer Mutter gehen, trotzdem stand sie auf und trat auf den Flur. Unter der Tür zum Arbeitszimmer, wo ihre Mutter an ihrem Buch arbeitete, sah sie einen Lichtstreifen. Langsam und widerstrebend, die Arme um den Oberkörper geschlungen, ging sie darauf zu und bemühte sich, kein Geräusch dabei zu machen.
Vor der Tür blieb sie stehen und hielt den Atem an. Sie wollte nicht klopfen. Sie wollte nichts sagen. Fest presste sie die Lider zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter in ihr Zimmer gekommen wäre, um nach ihr zu sehen, und gemerkt hätte, dass sie in den Arm genommen werden wollte. Aber das hatte sie nicht getan. Sie tat es so gut wie nie.
Als sie Lauren auf der anderen Seite der Tür weinen hörte, erfasste sie erneut tiefste Verzweiflung. Leah wusste, dass ihre Mutter sich bemühte, leise zu sein, genauso wie sie sich selbst bemühte, leise zu sein, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Halt suchend lehnte sie sich an die Wand, zog ihr T-Shirt hoch und vergrub das Gesicht darin.
Sie konnte nicht zu ihrer Mutter gehen. Ihr Mutter hatte genug mit ihrer Trauer und ihrer Schuld zu tun. Leah wollte ihrer Mutter nicht auch noch ihren Schmerz aufbürden.
Sie wünschte, sie könnte es, aber es ging nicht.
Deshalb schlich sie auf Zehenspitzen zurück in ihr Zimmer und nahm ein Kissen vom Bett, um damit ihr Schluchzen zu ersticken, als sie sich in dem Sessel am Fenster zusammenrollte und ihren Tränen freien Lauf ließ.
Sie weinte um sich, weil sie einsam war, weil sie das Gefühl hatte, nicht wichtig zu sein, nicht zu zählen. Sie weinte aus Trauer um den Vater, den sie verloren hatte, und um die Schwester, die sie alleingelassen hatte. Sie weinte vor Kummer und Schmerz und Wut. Die Gefühle waren so unerträglich, dass sie sie gleichzeitig zu ersticken und zu zermalmen schienen. Der Druck kam sowohl von innen wie von außen, unentrinnbar. Sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte.
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